Dieser Artikel wird Ihnen empfohlen: https://www.nzz.ch/feuilleton/gershom-scholem-die-sprache-muss-das-schweigen-in-sich-bewahren-ld.1489565?mktcid=smsh&mktcval=E-mail Neue Zürcher Zeitung https://www.nzz.ch © Neue Zürcher Zeitung AG - Alle Rechte vorbehalten
Sprache ist nur Kunst, wenn sie das Schweigen in sich bewahrt: Wie Gershom Scholem moderne Literatur gelesen hat
Jüdische Mystik und Kabbala: Darum kreiste das Denken des Religionshistorikers Gershom Scholem. Als fulminanter Leser hat er sich aber auch zeitlebens mit zeitgenössischer Literatur beschäftigt. Durchaus kritisch, wie seine Notate dazu zeigen.
Felix Philipp Ingold
26.6.2019, 05:30 Uhr
Dass Gershom Scholem (1897–1982) auch jenseits seiner hauptsächlichen Forschungsbereiche – der althebräischen Sprachkultur, der jüdischen Mystik, der Kabbala – ein fulminanter Leser war, ist eindrücklich belegt durch seine Tagebücher, seine Korrespondenzen und seine verstreuten journalistischen Schriften. Als Gesprächs- und Briefpartner Walter Benjamins hatte er über viele Jahre hin den zeitgenössischen deutschen Literaturbetrieb wie auch aktuelle literaturgeschichtliche und -theoretische Debatten mitverfolgt, ohne sich freilich daran zu beteiligen. Scholems literarische Interessen galten vorrangig der biblischen Dichtung, der chassidischen und der modernen jüdischen Erzählkunst sowie der Praxis und Theorie der Übersetzung.
Ein umfangreicher Textband dokumentiert nun diese vielfältigen Interessen – mit eingeschlossen die eigenen Gedichte des Autors − unter dem Allgemeinbegriff «Poetica». Vorgelegt werden Scholems Verdeutschungen biblischer Klagelitaneien (zum Beispiel Jeremias, Hiob), Hymnen und sonstiger religiöser Texte (Buch Jona, Kohelet, Psalmen usw.), aber auch Schriften neuzeitlicher jüdischer Verfasser (C. N. Bialik, S. J. Agnon). Dazu kommen verstreute sekundärliterarische Materialien (Rezensionen, Kommentare, Reminiszenzen, Ansprachen, Abhandlungen), einige davon in Erstpublikation, die meisten nachgedruckt aus Zeitschriften oder Sammelwerken und aus früheren Büchern des Verfassers.
So, wie Gott gesprochen hat
Die hier nahezu vollständig gebündelten Texte sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Oft handelt es sich um Gelegenheitsarbeiten, Werk- und Übersetzungskommentare oder fragmentarische Notate, seltener um grösser angelegte kohärente Schriften. Fast durchweg bleibt Scholems Augenmerk auf die althebräische Sprache fokussiert, die von ihm als Ursprache, als die Sprache schlechthin, wenn nicht als die Sprache Gottes hochgehalten und sakralisiert wird.
Mit Bezug auf das Hohelied heisst es an einer Stelle: «Die hebräische Lyrik erhält ihre einzigartige Grösse durch die Würde der Sprache. Die Würde der Sprache ist das, was an einer Sprache schlechthin unübersetzbar ist. Sie ist nicht der Stil, sondern macht vielmehr eine eigene Ordnung aus, die die Verbindung mit der Thora begründet.»
Das ist beeindruckend, geradezu erhaben formuliert, kann aber argumentativ weder begründet noch widerlegt werden, bleibt also sprach- und textkritisch ohne Belang. Doch genau diese suggestive, begrifflich unbestimmte Art des Behauptens und Verkündens hat Scholem über Jahrzehnte hin praktiziert und so zu seinem Personalstil gemacht.
Oberflächliche Schwätzer
Beschwörung verbindet sich in seinen Schriften mit höchstem Wahrheitsanspruch, fordert Gefolgschaft, verhindert Widerrede. Was sollte man entgegnen, wie könnte man überhaupt reagieren auf eine Feststellung wie diese: «Wie das Licht sich aus einem selbst dunkeln, lichtlosen Punkt unendlich nach aussen verbreitet, um im Unendlichen vielleicht in jene punktuelle Dunkelheit, das grösste, intensivste Strahlen, zurückzutauchen, so entwickelt sich die Dichtung in der Resonanz eines akustisch unendlich strahlenden Urbodens»? Akustisches Strahlen? Resonanz eines Urbodens? Punktuelle Dunkelheit im Unendlichen? Man kann das alles zur Kenntnis nehmen, doch was ist damit anzufangen?
Mit intellektuellen und religiösen Gegnern, die sich derartiger Rhetorik verschliessen, springt Scholem in aller Regel äusserst ruppig um. Zu diesen Gegnern gehören nicht zuletzt die neuhebräischen Schriftsteller, allen voran die Lyriker. «Das Hebräische», dekretiert er, «duldet allein Strenge». Wer sich der Strenge (der «Zucht») des Bibelhebräisch entziehe und das «erleichterte» moderne Hebräisch (Ivrit) als Dichtersprache praktiziere, könne nur ein «oberflächlicher Schwätzer» sein: «Beinahe alle [neuhebräischen] Gedichte Bialiks, Cahans und Tschernichowskis sind entweder ganz durchsichtiger oder besten Falles sehr verborgener Schwindel.»
Und schlimmer noch: Sie sind durchweg «negativ», «unrein», «sentimental», «areligiös» und (etwa bei Jakob Cahan) reine Kling-Klang-Poesie. Demgegenüber privilegiert Scholem die zeitgenössische jüdische Kunstprosa, namentlich Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon – ihnen widmete er zahlreiche Aufsätze und Besprechungen, und als Übersetzer war er bemüht, sie beim deutschen Lesepublikum einzuführen.
Lyrisch, aber ziemlich verrückt
Scholems langwierige kritische Auseinandersetzung mit der modernen jüdischen Literatur stand in starkem Kontrast zu seinem Desinteresse an der literarischen Moderne insgesamt: Er subsumierte sie pauschal unter dem Begriff einer «Kunst um der Kunst willen», hielt sie grösstenteils für unseriös und ärgerlich, vermochte selbst mit Marcel Proust nicht «warm» zu werden, gerade weil «Wärme» für ihn stets ein Kriterium starker Literatur gewesen ist.
Dass ihm auch eine Else Lasker-Schüler nichts zu sagen hatte, mag darauf zurückzuführen sein, dass er deren offenkundige «Wärme» als unangenehme Überhitzung empfand – ihre Sprache kam ihm «lyrisch-verrückt» vor, ihre Texte und sie selbst als Person verstörten ihn: Die Dichterin vermochte sich vor dem Judaisten nicht als Jüdin zu behaupten. Als Juden versagten laut Scholem auch Kurt Tucholsky und später Philip Roth – beide hätten fahrlässig dem Antisemitismus zugedient und damit auf infame Weise ihren Selbsthass ausgelebt.
Im Übrigen kein Wort zu den beanstandeten Texten als Literatur. Nicht nur in diesem Fall vermengt Scholem bedenkenlos Kunst und Gesinnung, und er gesteht dies auch offen ein, wenn er betont, dass seine «Ausführungen nicht im Mindesten als Beitrag zur Literaturkritik» gedacht seien. Das hat Geltung für seine Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen insgesamt: Form- und Stilfragen bleiben weitgehend ausgeblendet, Interesse finden hier lediglich die Inhalte (Ideen, Anschauungen, Meinungen), die vom Literaturwerk transportiert werden.
Das Innerste lässt sich nicht sagen
Das trifft nicht zuletzt auch auf seine eigenen Dichtwerke zu, die im vorliegenden Band grossen Raum einnehmen – ein halbes Hundert lyrischer Versuche aus dem Zeitraum zwischen 1914 und 1970, alles im gleichen Takt vorgetragen, bald politisch engagiert (Sozialismus, Zionismus), bald scherzhaft, beschaulich oder hymnisch intoniert. Die meisten dieser Texte entstammen Scholems Tagebüchern oder Briefen, auf Veröffentlichung waren sie nicht angelegt, künstlerischem Anspruch können sie nicht genügen, bestenfalls als Zeitdokumente (Erster Weltkrieg, Übersiedelung nach Palästina) mögen sie von Interesse sein.
«Was mich bewegt, muss stumm ich in mir tragen», bekennt Scholem 1918 in einem Widmungsgedicht an Walter Benjamin – implizit macht er damit klar, dass er selbst als Lyriker wie auch die Sprache als solche seine innersten Anliegen nicht wiederzugeben vermögen. Diese Einsicht verbindet sich bei ihm mit der Überzeugung, wonach sprachlicher Ausdruck, um sinnbildend zu sein, das Schweigen in sich bewahren, das Verschwiegene mit sich tragen müsse. Dass er die Erforschung der mystischen und kabbalistischen Schriftkultur zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, dürfte darin begründet sein.
Gershom Scholem, Poetica. Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte. Herausgegeben und kommentiert von Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Trieml und Sigrid Weigel. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Berlin 2019. 783 S., Fr. 82.90.
########################################################################
To unsubscribe from the GERMAN-STUDIES list, click the following link:
https://www.jiscmail.ac.uk/cgi-bin/webadmin?SUBED1=GERMAN-STUDIES&A=1
|