Lieber Herr Langer,
die Regeln der herkömmlichen Orthographie kamen nicht auf dem
Verordnungswege zustande, sondern dadurch, daß historisch gewachsene
Strukturen beschrieben und in Regeln gefaßt wurden. Der Wunsch des Duden
nach möglichst präzisen Regelungen führte leider zu einer wachsenden und
unüberschaubar werdenden Zahl von Einzelfestlegungen, die sich z. T. nicht
mehr mit dem oftmals freieren schriftsprachlichen Gebrauch deckten. Dies
betrifft z. B. die Praxis der Getrennt- und Zusammenschreibung, die die
Schreibung ‘Rad fahren’ neben ‘radfahren’ akzeptierte, während der Duden
die Zusammenschreibung forderte.
Um eine Erleichterung der Rechtschreibregeln zu erreichen, wäre es also
sinnvoll gewesen, das Regelwerk des Duden auszukämmen und sich stärker am
Usus zu orientieren. Statt neue Regeln zu erfinden, hätten die
herkömmlichen verkürzt und vereinfacht werden müssen. Stattdessen erfuhr
die deutsche Orthographie zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Bruch
mit der Schreibtradition: Richtig war nun nicht mehr, was die große
Mehrheit der Sprachgemeinschaft als richtig empfand, sondern richtig war
jetzt, was die Reformer für richtig befanden.
Diesen Bruch hat es nach der 2. Orthographischen Konferenz von 1901 nicht
gegeben. Was Duden und seinesgleichen bewirkten, war keine Änderung der
geltenden Rechtschreibnorm, sondern eine Vereinheitlichung der Regeln in
jenen Bereichen, in denen es Differenzen gab. So war z. B. der Wegfall des
h nach t in Wörtern wie ‘Thür’ bereits so weit fortgeschritten, daß man
sich entschloß, diese Schreibung als Norm anzuerkennen. Diese Konferenz
dauerte übrigens nur drei Tage, und die daraus resultierende Neuregelung
füllte ganze drei Buchseiten.
Darüber hinaus waren die Auswirkungen der Konferenz von 1901 andere:
Während man damals die in einigen Teilen uneinheitliche Orthographie zur
Einheitlichkeit führte, resultierte die Reform von 1996 in einer
umgekehrten Entwicklung: Sie brachte die Spaltung in eine herkömmliche und
eine ‘neue’ Orthographie und führte unvermeidlich dazu, daß diese nun
wieder uneinheitlich wurde. Die Presse setzt einen Teil der Regeln um, die
FAZ und einige andere Zeitungen setzen sie gar nicht um, und Verlage von
Kinder- und Schulbüchern, die sich um eine weitestgehende Umsetzung aller
Regeln bemühen, machen oft zahlreiche Fehler.
Es verwundert deshalb nicht, daß die Bevölkerung der ‘neuen’
Rechtschreibung nach wie vor skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Eine
neuere Emnid-Umfrage vom August dieses Jahres zeigte, daß nur 13.7 % der
Bevölkerung die ‘neue’ Rechtschreibung als Erleichterung empfinden und sie
deshalb befürworten. Wer vor der Reform seine Rechtschreibkenntnisse
festigen und vertiefen wollte, mußte vor allem viel lesen. (Der
Orthographieunterricht in der Schule wird diesbezüglich oft überschätzt,
wenn wir uns vor Augen halten, wie wenige Wörter, die wir richtig schreiben
können, im Deutschunterricht tatsächlich ‘gepaukt’ wurden.) Wer heute
die ‘neue’ Rechtschreibung beherrschen will, wird um eine intensive
Auseinandersetzung mit den neuen Regeln, verbunden mit häufigem
Nachschlagen, nicht umhinkommen. Häufiges Lesen wird ebenfalls nicht zur
Einprägung der ‘neuen’ Orthographie führen, weil es fast unmöglich ist, die
Vielzahl von Mischorthographien, wie sie heute existiert,
auseinanderzuhalten.
Können Sie mir sagen, lieber Herr Langer, worin der Sinn lag, die von
Konrad Duden und seinesgleichen erreichte Einheitlichkeit der Orthographie
so leichtfertig aufzugeben? Doch wohl nicht für das, was wir jetzt haben:
einen aufgeblähten Rechtschreibduden mit einem Regelwerk, das dem alten
bezüglich Umfang und Komplexität in nichts – aber auch gar nichts -
nachsteht.
Mit freundlichen Grüßen
Elke Philburn
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