With thanks to all who wrote in and contributed, here the article from tomorrow’s F.A.Z. (‚Geisteswissenschaften‘, p. 36). NB: Space seems to have been tight, so pic and Inclusive language were removed… The editors have said that they are going to post an English version on the website - will let you know when it is online since this might be an opportunity to include in the comments area some of the additional arguments brought forward by colleagues.
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Mittwoch, 29. Juni 2016
Geisteswissenschaften
Am Boden zerstört, doch nicht hoffnungslos
Forschung und Lehre
Wissenschaftler und Studenten an britischen Hochschulen suchen nach dem Brexit die europäische Integration aus eigener Kraft
Die Mail der Rektorin, die am Freitag um 11:17 Uhr bei allen Studenten und Beschäftigten der Universität Oxford landete, fing mit dem Satz an, der bislang für Mondlandung und Mauerfall reserviert war: „I think we will always remember where we were when we received news of the results of yesterday’s referendum.“ Mir wird tatsächlich vor Augen bleiben, wie wir uns nach einer von den Germanistik-Studenten ausgerichteten dramatischen Lesung des mittelalterlichen Juttenspiels mit einer anglo-deutsch gemischten Gruppe durch die Lieder des englischen Komikerduos „Flanders & Swan“ sangen und gerade bei dem „Song of Patriotic Prejudice“ angelangt waren, als kurz vor Mitternacht das erste Wahlergebnis hereinkam: Newcastle hatte nur ganz knapp für den Verbleib in der EU gestimmt, obwohl eine deutliche Mehrheit vorausgesagt worden war. Die Stimmung kippte, alle starrten auf die Handy-Bildschirme mit der Live-Berichterstattung des BBC und verzogen sich nach Hause.
Als wir uns am nächsten Morgen mit der gleichen Bonn-Oxforder Gruppe zu einem Workshop zu historischen Drucktechniken in der Bodleian Library wiedersahen, schlug sich die Stimmung auch in den Setzübungen nieder. Die Studenten wandelten spontan die Datumsangabe auf „on the day Brexit“ ab, und Naomi, Studentin im zweiten Studienjahr, ersetzte ihren Nachnamen durch „does not like the English“.
Die Oxforder Germanistikstudenten hatten nicht nur alle für den Verbleib in der EU gestimmt, sondern auch aktiv unter ihren Kommilitonen geworben. Mit enormer Anstrengung wurde eine Aufholjagd betrieben. Die Universitäten wurden zum Hauptmotor der „Remain“-Kampagne. Ein offener Brief aller Universitätsrektoren unterstützte energisch den Verbleib. Die Lobbyarbeit prominenter Akademiker, angeführt von Stephen Hawking, und Kampagnen in den Sozialen Medien unterfütterten die Kampagne mit Daten und Fakten. Die Mühe hatte sich bei der Zielgruppe gelohnt. So gut wie alle Universitätsstädte votierten für die EU, vor allem sprachen sich 75 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für den Verbleib aus.
Aber es reichte nicht aus. Die 635 000 Stimmen, die den Ausschlag für den Ausstieg gaben, kamen von den ältesten Wählern, die einer Rhetorik folgten, die auf Nostalgie nach einem verschwundenen Weltreich setzte. Viele Kommentatoren stellten mit Bitterkeit fest, dass Großbritannien von der Generation aus der EU geführt wird, die selbst von der europäischen Stabilität profitiert hat und jetzt nicht mehr die Konsequenzen tragen muss. Bedenklich stimmt besonders, dass alle Argumente aus Wissenschaft, Kultur und Politik nur als elitäre Expertenmeinung wahrgenommen wurden.
Entsprechend betroffen war die gesamte akademische Gemeinschaft nicht nur über das Ergebnis, sondern auch über die hasserfüllten Reaktionen, die während der Kampagne ans Tageslicht kamen. Die Vokabeln, die in Mails und Gesprächen im Kollegium am häufigsten fielen, waren „bereavement“ (Trauer über den Verlust), „devastation“ (Gefühl, am Boden zerstört zu sein) und „utter disbelief“ (komplette Fassungslosigkeit). Was aber noch stärker als Wut und Trauer aus allen Beiträgen sprach, war „determination“, eine geradezu wilde Entschlossenheit, jetzt erst recht die europäische Zusammenarbeit hochzuhalten.
Der eingangs zitierte Brief der Oxforder Rektorin Louise Richardson führt das klar aus. Obwohl das Ergebnis nicht dem politischen Votum der Universität entsprach, setzt sich Richardson dafür ein, die Interessen all derer zu vertreten, die in Großbritannien studieren, arbeiten und mit britischen Forschern kooperieren. So wie das ruhige Urteil des Bankenchefs am Morgen zur Entspannung der Lage beitrug, setzte die Oxforder Rektorin wie viele ihrer Amtskollegen darauf, dass es keinerlei unmittelbare oder automatische Änderungen bei dem Aufenthaltsstatus für EU-Bürger gibt und die EU-Programme zumindest im Moment weiterlaufen.
Die beiden wichtigsten Programme für die Hochschulen waren damit benannt: für Wissenschaftler in erster Line die Kooperationsmöglichkeit über Horizon 2020, das großangelegte Forschungsprogramm des European Research Council. Großbritannien hat dabei immer überproportional gut abgeschnitten. Einer der großen Vorteile, britische Partner in europäischen Kooperationen im Boot zu haben, ist die muttersprachliche Kompetenz, gepaart mit der rigorosen Schulung in gutem akademischem Schreiben, das traditionell Teil der britischen Universitätsbildung ist. Auch in Zukunft wird, ganz unabhängig vom rechtlichen Status Großbritanniens in der EU und der weiteren Teilhabe an dem Programm, diese Schlüsselkompetenz der britischen Wissenschaft für Projektanträge und Berichte entscheidend sein.
Das zweite und vielleicht noch wichtigere Programm ist Erasmus+. Es ist die große Erfolgsgeschichte der europäischen Integration auf der Ebene der Jugend, ob für Auszubildende oder Studenten. Es wäre ein tiefer Einschnitt, wenn sich Austauschvorhaben durch den Verlust des EU-Status so verteuern würden, dass die Zahlen drastisch zurückgingen oder Gastaufenthalte nur noch für Reiche finanzierbar wären. Alle Universitäten haben signalisiert, dass sie sich dafür einsetzen werden, dieses Programm in voller Stärke zu erhalten.
Sarah Colvin, Vorsitzende des britischen Germanistenverbandes, führte in einem Beitrag für die „Deutsche Universitätszeitung“ die Vorteile von Europa anhand der Daten aus, die der Zusammenschluss der „Universities for Europe“ eingebracht hat: „ 125 000 EU-Studierende an britischen Universitäten, darunter Deutschland mit 13 700 Studierenden an erster Stelle, stärken die Wirtschaft mit 3,7 Milliarden Pfund und den Arbeitsmarkt mit 34 000 Stellen. Britische Studierende bekommen umgekehrt durch den Austausch eine um fünfzig Prozent bessere Chance, später eine langfristige Arbeitsstelle zu finden. 15 Prozent der Forschungs- und Lehrkräfte an unseren Universitäten stammen aus dem EU-Ausland. Europäische Gelder ermöglichen zahlreiche internationale Forschungsprojekte und Trainingskooperationen.“
Entscheidend für die Zukunft Großbritanniens in Europa wird die Frage des Fremdsprachenerwerbs und des Austauschs sein. Wie ein emeritierter Kollege schrieb: „Wir müssen über neue Wege nachdenken, durch die wir, auch ohne Teil der EU zu sein, unsere weitere Integration in Europa durch Austausch, Kontakte, Zusammenarbeit - von der Grundschule bis zu den Professoren - vorantreiben und wie wir wirklich intensive Sprachvermittlung betreiben können.“ Ein solches Großprojekt sind die „Think German“-Netzwerke, die Schulen, Universitäten und Organisationen regional verbinden. Ein anderes ist die „Open World Research Initiative“ des Arts and Humanities Council, mit der unter anderem der Fremdsprachenunterricht gefördert werden soll. Hier geht es darum, nicht nur das wirtschaftliche Argument für Europa und Fremdsprachenerwerb zu bedienen, sondern mit Sprachfreude an Herz und Geist zu appellieren. Wenn sich etwas für die anderen EU-Staaten aus der Brexit-Bauchlandung lernen lässt, dann ist es die Wichtigkeit, europäische Integration zu einem Herzensanliegen zu machen.
Deutsche stellen die größte Zahl der EU-Immigranten an britischen Universitäten. Wir sind als deutsche Akademiker nach Großbritannien gekommen, weil wir die weltoffene, kollegiale und nicht primär hierarchische Universitätskultur lieben. Ich schreibe diesen Artikel im Eurostar von London nach Brüssel, auf dem Weg zu meinem alljährlichen zweimonatigen Forschungsaufenthalt am FRIAS, dem Freiburg Institute for Advanced Studies. Diese Kooperation wird, wie viele andere, unabhängig von der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens weiterlaufen. Henrike Lähnemann
Die Autorin ist Professorin für Germanistische Mediävistik an der Universität Oxford.
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Dieser Text kommt aus F.A.Z. PLUS, der neuen digitalen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
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