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Interview mit Ruth Klüger in der Süddeutschen Zeitung:

Sven Michaelsen
»Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern«
Mit elf Jahren wurde Ruth Klüger in das KZ Theresienstadt deportiert. Nach dem Krieg wurde sie eine berühmte Germanistin und Schriftstellerin – aber sie sagt: »Ein Teil von mir ist in den Lagern geblieben.« Ein Gespräch über Gedichte auf dem Appellplatz, die Macht des Zufalls und die Unfähigkeit zu weinen
Ihr Haus steht auf dem Hügel einer Akademikersiedlung in der kalifornischen Universitätsstadt Irvine. Ruth Klüger, klein und sehr zierlich, öffnet die Tür und fragt in Wienerisch gefärbtem Deutsch, ob man eine Melange mittrinke. »Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien«, sagt sie. »Mein Urschleim ist der 7. Bezirk. Der Mensch in mir hat die Augen aufgeschlagen, als ich Deutsch gelernt habe.«
1938 besetzten Hitlers Truppen Ihre Geburtsstadt Wien. Ab September 1941 wurden alle Juden ab sechs Jahren gezwungen, den Judenstern zu tragen. Wie haben Sie auf diese Stigmatisierung reagiert?
RUTH KLÜGER Ich war zehn Jahre alt und habe den Judenstern nicht ungern getragen. Der Einmarsch der Deutschen war für mich etwas noch nie Dagewesenes, unheimlich und faszinierend zugleich. Auf der Straße sah man wegen des Judensterns auf einmal, wer zu uns gehörte. Diesen Menschen nickte man zu oder man grüßte sie. Wegen der deutschen Besatzer begriff ich mich auf kindisch-naive Weise als jüdisch und oppositionell und ließ mich nicht mehr Susanne oder Susi nennen, sondern Ruth, nach meinem zweiten Vornamen. Wie hätte ich Ihrer Meinung nach reagieren sollen?
In Ihrem sozialdemokratisch gesinnten Elternhaus wurde ab 1939 hinter vorgehaltener Hand erzählt, Juden kämen in Konzentrationslager, wo sie gefoltert würden. Deshalb wäre es verständlich, wenn Sie Panik und Todesangst empfunden hätten.
Zu Hause war nur noch meine Mutter da. Mein Vater war 1940 nach Italien geflüchtet, er wurde vier Jahre später von Deutschen erschossen. Mein Bruder wurde mit 17 von Deutschen erschossen. Meine Mutter, gegen die ich so viel einzuwenden hatte, später und auch damals schon, ist ihr Leben lang furchtlos gewesen. Sie hat die Befehle der Deutschen mit Verachtung behandelt, und mit Verachtung nahm sie hin, dass sie für ihre Judensterne auch noch zehn Pfennig pro Stück zahlen sollte. Wie sie hatte ich für Selbstverachtung nichts übrig und versuchte, mir ihren verächtlichen Gesichtsausdruck, den ich bewunderte, zu eigen zu machen. Dabei war die Ausgrenzung der Juden in vollem Gang. Ich musste meine Schule verlassen, Lesen übte ich an judenfeindlichen Schildern, und als ich auf keiner Parkbank mehr sitzen durfte, wurde mein Lieblingsplatz der jüdische Friedhof. Dort ließ man mich in Ruhe.



Im September 1942 wurden Sie mit elf Jahren mit Ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt sechzig Kilometer nordwestlich von Prag deportiert. Warum haben Sie fünfzig Jahre später in einem Porträt Ihrer Kindheit den Satz geschrieben: »Ich habe Theresien­stadt irgendwie geliebt«?
Als ich nach zwanzig Monaten in Theresienstadt im Mai 1944 ins KZ Auschwitz-Birkenau kam, habe ich mich in eine bessere Welt zurückgesehnt. Diese bessere Welt war nicht Wien, es war Theresienstadt, denn dort hatte es für mich ein Zusammenleben mit Kindern gegeben. In Wien war ich isoliert gewesen, ein asoziales, absonderliches Kind ohne Freundinnen, das unter Tics und Zwangsvorstellungen litt. Ich habe immerzu fantastische Geschichten erfinden müssen, um das Leben fristen zu können, und was ich mir ausdachte, war nicht immer normal. Wenn Theresienstadt mich auch nicht geheilt hat, so ist dort doch einiges besser geworden bei mir. Aus dem in sich versponnenen, unansprechbaren Mädchen wurde ein soziales Wesen mit Lust an Gesprächen und einem Talent für Freundschaft. Ich tat mir nicht leid, sondern lachte viel, tobte und machte Krawall.



Sie kamen mit zwölf Jahren nach Auschwitz-Birkenau. Als Ihnen dort ein Mithäftling die Nummer A-3537 auf den Arm tätowierte, empfanden Sie »eine Art Freude«. Warum?
Weil etwas Ungewöhnliches passierte. Ich erlebte ein Abenteuer, wie mit dem Judenstern. Und ich wusste, wenn ich wieder rauskomme, werde ich etwas Interessantes und Wichtiges zu erzählen haben. Der Lebensstrang der Erwachsenen war, wir müssen überleben, weil das, was hier passiert, erzählt werden muss. Das habe ich übernommen. Mit dieser Nummer auf dem linken Arm konnte ich später Zeugnis ablegen, in Gedichten oder in einem Buch wie »Hundert Tage im KZ«. Es konnte tröstlich sein zu denken, ich bin etwas ganz Außergewöhnliches, und was ich erlebe, wird mir später Ehre einbringen. Das war Gegengift für Selbstmitleid.



Im Sommer 1944 deutete ein inhaftierter Lehrer auf ein paar Grashalme und sagte zu Ihnen: »Seht ihr, sogar in Auschwitz wächst etwas Grünes.« Sie verachteten ihn für diesen Satz.
Ich wurde bitter und wütend. Ich bitte Sie, ich war im Todeslager, warum musste ein Erwachsener mich unbedingt darauf aufmerksam machen, dass mich das Gras in Auschwitz überleben wird? Es war die Sentimentalität, die mich aufbrachte, obwohl ich das Wort vielleicht gar nicht kannte damals, diese Hoffnung, die keine Hoffnung ist. Hoffnung macht untätig und feige, Verzweiflung macht stark.
Sie waren im B IIb genannten Familien­lager von Auschwitz-Birkenau untergebracht. Wussten Sie von den Gaskammern und Krematorien?
Ja, ich habe eine Freundin gehabt, Liesel. Ihr Vater war im Sonderkommando und hat Asche von Leichen geschaufelt. Man sah auch die auf Lastwagen gehäuften nackten Toten, umschwärmt von Fliegen. Jeder wusste, was da auf uns zukommt. Trotzdem sind die Leute nicht angstschlotternd herumgelaufen, einfach weil Menschen nicht auf Dauer angstschlotternd herumlaufen.
Ihre Mutter schlug Ihnen am Ankunfts­abend vor, sich gemeinsam in den unter Starkstrom stehenden Stacheldraht zu stürzen, der das Lager umgab.
Ihr Vorschlag überstieg mein Fassungsvermögen, und ich tat so, als würde sie es nicht ernst meinen. Meine Weigerung nahm sie gelassen hin: »No, dann eben nicht.«



Ende 1944 kamen Sie mit Ihrer Mutter nach Christianstadt, ein Lager für Zwangsarbeiterinnen, das zum KZ Groß-Rosen in Niederschlesien im heutigen Polen gehörte. Welche Arbeiten befahl man Ihnen?
Wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe gefällter Bäume ausgegraben und Eisenbahnschienen getragen. Manchmal musste ich auch in den Steinbruch.



Sie waren inzwischen 13 Jahre alt. Wie hartgesotten waren Sie?
Wie soll ich das beurteilen können? Dazu fehlen mir Vergleiche. Ich kannte nur Kinder, die das Gleiche erlebten. Ich habe mir gar nicht besonders leidgetan. Ich war darauf aus, in Freundschaften Verständnis zu finden und etwas zu lernen.
Sie waren ein lesebesessenes Kind, das bereits mit sieben Jahren anfing, Gedichte zu schreiben, auswendig zu lernen und aufzusagen.
Ich kann sie bis heute. Bei uns zu Hause las ich alles an Lyrik, was mir in die Hände fiel. Diese frühe Bekanntschaft mit der deutschen Literatur hat mich mehr geprägt, als ich es mir später gewünscht habe. Allerdings war ich auch süchtig nach Naziliteratur. Den Stürmer fand ich unwiderstehlich, weil mir meine Eltern verboten hatten, so etwas auch nur in die Hand zu nehmen. Es wurde mir auch nie erlaubt, eine Hitlerrede im Radio zu hören. So wurde der Stürmer meine Pornografie.



Juden war es verboten, ins Kino zu gehen. Warum haben Sie sich 1940 in der Wiener Innenstadt unter Lebensgefahr den antisemitischen Hetzfilm Jud Süß angesehen?
Weil es diesen Film gab, und was immer da war, hat mich interessiert. Man hatte von diesem Film gehört, er ist diskutiert worden. Ich wusste, dass er gegen die Juden geht, aber ich wollte ihn aus Bestemm sehen – wie sagt man das in Deutschland?



Aus Trotz.
Aus Trotz gegen meine Mutter, die mir verboten hatte, den Film zu sehen, und aus Trotz gegen Verbote überhaupt. Was ich nicht durfte, wollte ich erst recht.
Wenn Sie im KZ stundenlang Appell stehen mussten, sagten Sie Gedichte von Goethe und Heine vor sich hin oder Balladen von Schiller.
Ich fiel nicht um, weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab. Fiel sie einem nicht ein, lenkte das Nachgrübeln von der eigenen Schwäche ab.
Ist es ein Aberglaube, man könne Horror und Albdruck durch Kunst bannen?
Nein. Verse vor mich hin zu sagen, war ein Gegengewicht zum sinnlosen und destruktiven Zirkus, in dem wir untergingen. Was einem Halt gab, war die Form, die gebundene Sprache, das Gereimte. Der Inhalt der Gedichte war in meiner Lage wertlos. Nehmen Sie Schillers Ballade Ritter Toggenburg:
»Und er hört’s mit stummem Harme,
Reißt sich blutend los,
Preßt sie heftig in die Arme,
Schwingt sich auf sein Roß,
Schickt zu seinen Mannen allen
In dem Lande Schweiz,
Nach dem heil’gen Grab sie wallen,
Auf der Brust das Kreuz.«
Das ist natürlich ein völliger Blödsinn, so schlecht wie die meisten Schiller-Balladen, aber von Bedeutung war, der allgemeinen Auflösung etwas ästhetisch Geformtes entgegensetzen zu können. Gedichte halfen mir zu überleben. Sie sind, wie Träume, eine Möglichkeit, dem Unterbewusstsein Luft zu verschaffen. Sich mit Goethe an schöne Orte begeben zu können, bewies mir, dass es da draußen eine Natur geben muss, die nicht so ausschaut wie die Mondkraterlandschaft der Lager.



In Ihrem 1944 im Alter von zwölf Jahren verfassten Auschwitz-Gedicht Der Kamin heißt es:
»Täglich hinter den Baracken
Seh’ ich Rauch und Feuer stehn.
Jude, beuge deinen Nacken,
keiner hier kann dem entgehn.
Siehst du in dem Rauche nicht
ein verzerrtes Angesicht?
Ruft es nicht voll Spott und Hohn:
Fünf Millionen berg’ ich schon!«
Wie kamen Sie auf die Zahl fünf Millionen?
Ich hatte sie irgendwo im Lager aufgeschnappt. Man kann auch in Auschwitz übertreiben. Tatsächlich sind dort nicht mehr als 1,1 Millionen von uns in Rauch aufgegangen. Ich habe dieses Gedicht in Anflügen von Todesangst verfasst. Ich bildete mir ein, es ginge nicht um mich, sondern um etwas, was ich lediglich beobachte. So versuchte ich, bei Verstand zu bleiben.
Haben Sie sich in den Lagern von außen gesehen?
Ganz selten. Erniedrigung und Scham habe ich gespürt, wenn man sich wie ein Viech untersuchen lassen musste oder die Zähne besessen von Gier in den Kanten Brot schlug. Einmal dachte ich, ich habe überhaupt keine Essmanieren mehr. Dass man in einer Gruppe war, in der es allen so ging, hat die Scham gelindert.



Haben Sie in den KZs oft geweint?
Nein, ich weine nicht. Ich kann überhaupt nicht weinen. Das wird mir gelegentlich vorgeworfen. Ich weiß nicht, wie man das macht, weinen. Die einzige Ausnahme, an die ich mich erinnere, ist 15 Jahre her. Ich hatte in dichtem Nebel eine Katze überfahren und bin mit der Leiche tränenüberströmt rumgelaufen, um die Leute zu finden, denen die Katze gehört. Ich habe sie aber nicht gefunden und war völlig durcheinander. Das heißt, nur ein Schock kann bei mir Tränen hervorrufen, sonst nichts.
»

Ich fiel im KZ nicht um, weil es immer eine nächste Zeile zum Aufsagen gab

«
Haben Sie je vor Freude geweint, zum Beispiel bei der Geburt Ihrer Kinder oder Enkel?
Nein, wie gesagt, ich weine nicht. Vielleicht ist das eine Reaktion auf mein Wiener Elternhaus. Ich habe als kleines Mädchen mit weinen nie etwas erreicht. Also warum überhaupt weinen lernen?
Schweißt Todesnot Menschen zusammen, oder offenbart sie deren Abgründe und Bösartigkeiten?
Beides. Dass Leid sittliche Läuterung bewirkt, ist rührseliger Unsinn. Es stärkt den Charakter, wenn man nicht hungert, und es schwächt ihn, wenn Hunger den Selbsterhaltungstrieb bis zur Kriminalität steigert. Es gab aber nicht nur brutalste Selbstsucht in den Lagern. Ich habe Frauen erlebt, die freundlich zu einem Kind wie mir waren, auch wenn sie hungerten und froren und sich fürchteten. Meiner feministischen Ansicht nach kann man mehr Zusammenhalt von Frauen erwarten als von Männern. Frauen sind weniger aggressiv und wissen mehr über das Gute als Männer, die es so gern trivialisieren. Vielleicht wissen Frauen auch mehr über das Böse als Männer, die es so gerne dämonisieren. Die jüdische Philosophin Simone Weil hat einmal gefragt, warum in Romanen fast immer das Gute langweilig und das Böse interessant ist. Sie hielt das für eine genaue Umkehrung der Wirklichkeit.



Der im vergangenen Jahr verstorbene Literaturnobelpreisträger Imre Kertész kam mit 14 Jahren nach Auschwitz. In seinen Tagebüchern heißt es: »Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare ist nicht das Böse, im Gegenteil: Es ist das Gute.«
Ich trauere Kertész nach. Er ist mir lieb, weil er den Mut hatte zu sagen, dass es bei den Häftlingen in Auschwitz auch Komik, Gelächter, Lebenslust und Glück gab. Was er über die Unerklärlichkeit des Guten sagt, habe ich selbst erlebt. Bei der Selektion in Auschwitz wurden Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren als Zwangsarbeiterinnen ausgewählt. Die anderen kamen in die Gaskammer. Ich war zwölf und nach fast zwei Jahren Theresienstadt unterernährt und unentwickelt. Eine freundliche Schreiberin, ein Häftling wie ich, vielleicht 19 oder zwanzig, flüsterte mir zu, ich solle mich für 15 ausgeben. Der amtierende SS-Mann sah mich misstrauisch an und sagte, die ist aber noch sehr klein. Die Schreiberin behauptete kühn, ich würde dennoch eine gute Arbeiterin abgeben, da ich muskulöse Beine hätte. Er zuckte die Achseln und ließ es gelten. Diesen Sekunden verdanke ich mein Weiterleben. Die Schreiberin hatte kein Motiv. Das ist das Unerhörte ihres Verhaltens. Das Gute hat keine Ursache als sich selbst und will auch nichts als sich selbst. Ich wollte, ich hätte meine Retterin irgendwann treffen können. Hat sie es vielleicht für andere auch gemacht? Und hätte ich es für sie gemacht? Ich weiß es nicht. Diese Frau war der Zufall meines Lebens. Das zum Tode verurteilte Kind hatte eine Lebensverlängerung gewonnen.
Das Lager Christianstadt wurde Anfang 1945 aufgelöst. Auf dem Transport ins KZ Bergen-Belsen gelang Ihnen und Ihrer Mutter die Flucht. Nach dem Kriegsende in Bayern angelangt, wurden Sie von den Amerikanern zu »Displaced Persons« erklärt und lebten zweieinhalb Jahre in Straubing, Deggendorf und Regensburg.

Mein Vater war Sozialdemokrat und Zionist. Ich verstehe nicht, warum er uns nicht vor 1938 nach Palästina gebracht hat. Ich hätte 1945 nach Israel gehen sollen. Dort hätte ich zu einer Mehrheit gehört. Aber meine Mutter wollte unbedingt nach Amerika.
Es gibt in Ihrer Biografie einen zweiten lebensentscheidenden Zufall. 1945 schickten Sie zwei Ihrer Auschwitz-Gedichte an eine Zeitung. Veröffent­licht wurden lediglich zwei Strophen, ohne dass Ihr Name genannt wurde. 14 Jahre später wurden Ihre Gedichte ohne Ihr Wissen in einer Anthologie nachgedruckt. Anfang der Sechzigerjahre stieß ein amerikanischer Germanist auf Ihre Gedichte und verhalf Ihnen zu einer Assistentenstelle am German Department der University of California in Berkeley und dem Angebot zu promovieren. Heute sind Sie die prominenteste Auslands­germanistin und Autorin von zwei Bestsellern, den 1992 und 2008 erschienenen Erinnerungsbüchern weiter leben und unterwegs verloren.
Sie wollen sagen, Auschwitz ist für meine Karriere verantwortlich? Wenn ich schlecht gelaunt bin, ärgert mich das, weil ich nie in die Schuld der Deutschen geraten wollte. Bei guter Laune empfinde ich meinen Berufsweg als poetische Gerechtigkeit. Die Germanistik stellte die Möglichkeit in Aussicht, mit den Lagern ins Reine zu kommen. Ich ahnte nicht, dass ich Freunde verlor unter den Juden. Sie verstanden nicht, warum ich mich freiwillig mit dieser Teufelskultur beschäftigen wollte. Warum studierst du die Sprache unserer Verächter?, fragten sie.
Schreiben Sie noch Gedichte?
Manchmal. Ich bin nicht losgekommen von der Lyrik. Es gibt noch so vieles zu bedichten.



1949 schrieb der jüdische Sozial­philosoph Theodor W. Adorno den berühmtesten Satz der Germanistikgeschichte …
»Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« Später hat er sich korrigiert.
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Einer, der so deutsch aussieht wie Walser, war mir nicht geheuer

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Darf man aus Auschwitz Kunst machen?
Ja. Wenn man aus allem Kunst macht, warum dann nicht aus etwas, was die Menschen so dringend angehen sollte? Andernfalls wäre Auschwitz das verbotene Paradies: Von allen Früchten darfst du essen, aber von dieser nicht. Meine Gedichte über Auschwitz sind keine gelungenen Gedichte, aber sie sind aus einem Anlass entstanden. Warum sollte das verwerflich sein? Wo ist die Sünde?
Sie gehören zu den Letzten, die wissen, wie Auschwitz war. Wem ist es gelungen, den monumentalen Horror der KZ-Welt halbwegs realistisch zu porträtieren?
Nehmen Sie sich neun Stunden und schauen Sie sich Shoah von Claude Lanzmann an, womöglich in einer Sitzung. Oder, wenn das zu viel ist, in zwei Sitzungen. Dann haben Sie schon viel begriffen.
Schindlers Liste von Steven Spielberg?
Ist kein Muss. Lesen Sie lieber Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész.
Nach einem Notabitur wurden Sie 1946 mit gerade mal 15 Jahren Studentin der Philosophisch-theologischen Hochschule Regensburg. In den Hörsälen begegnete Ihnen ein Zwanzigjähriger in Jackett und Krawatte, der sich mit Ihnen zu Spaziergängen und Theaterbesuchen verabredete.

Ich will nicht über Martin Walser reden!
Walser war von Ihnen hingerissen. In einem Brief an eine Freundin schwärmte er: »Ihre Konversations­gabe ist von einer solchen Schärfe, dass mich jede Unterhaltung alle meine Zungen und Geisteskräfte kostet, um bestehen zu können. Dass sie glänzende, wirkliche Gedichte schreibt, ist auch nicht ihre hervorragendste Eigenschaft. Das Große und Schöne ist, wie sie sich zu geben weiß.«

Er war schon eindrucksvoll. Und ich habe natürlich versucht, ihn zu beeindrucken. Er war für mich der Inbegriff des germanischen Nachkriegsintellektuellen, und seine Aufmerksamkeit schmeichelte mir. Sein Ding war Kafka, damals noch fast ein Geheimtipp. Dessen Erzählungen ließen uns nicht mehr los.



Sie haben einander Briefe geschrieben.

Wenn ich ihm schrieb, ging es ihm um seine Antworten. Er wollte Sätze zusammenbringen. Darum geht es ja bei Schriftstellern, und er übte, einer zu sein. Das Objekt, an dem er praktizierte, war ihm weniger wichtig.



Sind Sie sicher, dass Walser nicht in Sie verliebt war? Und Sie in ihn?
Keine Ahnung. Was heißt verliebt? Ich fand ihn ungeheuer interessant, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich damals in einen Deutschen verliebt gewesen wäre. Das wäre schon vom Aussehen her nicht gegangen. Ich kann nicht sagen, dass ich Deutsche abstoßend fand, aber es war an der Grenze. Einer, der so deutsch aussieht wie Walser, war mir auf jeden Fall nicht geheuer. Er war ja sehr fesch. Er hat so ausgeschaut wie der junge Jakob Augstein.



Rückblickend werfen Sie Walser vor, er habe Sie nie nach Ihren Erlebnissen in Auschwitz gefragt.
Das ist das Verdrängen seiner ganzen Generation. Ich bin mit dieser Auschwitz-Nummer rumgelaufen und trug im Sommer öfter kurzärmlige Blusen. Da hätte er mich doch ausfragen können, was meine Erfahrungen waren. Einmal fanden wir am Wegrand ein Abzeichen der NSDAP. Er glaubte, ich sei erschrocken. Als wäre es so leicht, mich zu schrecken.
Warum haben Sie nicht von sich aus angefangen, von Auschwitz zu erzählen?
Es war sehr, sehr schwierig für mich, etwas zu sagen, ohne weinerlich zu klingen. Und er sollte nicht denken, dass ich ihm eine Schuld aufbürden will oder kann. Es war sowieso schon eine schwierige Annäherung: jemand wie ich und jemand wie er, nach dem Krieg. Da war eine Mauer, die beide nicht überschreiten konnten oder wollten. Deshalb haben wir uns lieber in literarische Gespräche vertieft.
Nach Ihrer Übersiedlung in die USA blieben Sie 55 Jahre lang miteinander befreundet. Als Walser dann 2002 seinen Roman Tod eines Kritikers veröffentlichte, kündigten Sie ihm in einem offenen Brief die Freundschaft.
Ich halte Tod eines Kritikers für bösartig und antisemitisch. Seine vier Jahre zuvor gehaltene Rede in der Frankfurter Paulskirche habe ich noch irgendwie verdaut, aber dieser Roman war zu viel.
Halten Sie Walser für einen Anti­semiten, oder meinen Sie, er habe einen Roman geschrieben, der Klischees enthält, die üblicherweise von Antisemiten benutzt werden?
Ich kann nicht beurteilen, ob Walser Anti­semit ist. Er weiß es vielleicht selber nicht. Aber die Figur des Kritikers in dem Roman schöpft aus bitteren, bösen Quellen und fördert das eventuelle Vorurteil des Lesers. Das hätte im Post-Holcocaust-Zeitalter nicht vorkommen sollen.
»

Ich bin nicht befugt, den Mord an sechs Millionen Menschen zu verzeihen

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Shylock, der verhasste Jude in Shakespeares Kaufmann von Venedig, ist eine antisemitische Figur. Ist deshalb das Stück antisemitisch?
Ja. In der Geschichte des Judenhasses ist Shylock die einflussreichste literarische Gestalt. Wie er sein Messer wetzt, um ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper herauszuschneiden: Das ist das Bild des Juden, das in die europäische Kultur stärker einging als jedes andere Bild des gefährlichen Juden, gerade weil es ein geniales Porträt von einem stark motivierten Bösewicht ist. Shakespeare selber wird kaum ein Judenhasser gewesen sein. Es gab ja damals keine Juden in England, sie waren vertrieben worden. Er hat den Typ des bösen Juden wohl der italienischen Literatur entnommen.
Hat Walser auf Ihren in der Frank­furter Rundschau veröffentlichten Brief geantwortet?
Nein, 2002 war Schluss mit uns, rettungslos und auf immer. Der Martin hängt mir schon nach, aber das ist nicht mehr zu lösen. Man kann ja gar nicht mit ihm diskutieren, weil er ein Verdrängungskünstler ist. Widerspricht man ihm, unterbricht er einen und schmiedet wunderschöne Sätze, denen nicht zu widersprechen ist. Er hat ein stilistisches Gefühl, das hervorragend ist, nicht wahr?
Nachdem Sie 1947 mit 16 Jahren in die USA übergesiedelt waren, lebten Sie von Aushilfsjobs. Mit 21 heirateten Sie, mit 23 wurden Sie zum ersten Mal Mutter. Ihr Mann Werner Thomas Angress war gebürtiger Berliner und Professor für Deutsche Geschichte an Universitäten in Kalifornien und New York. Dennoch haben Sie in den neun Jahren Ihrer Ehe nie Deutsch miteinander gesprochen.
Sie können nicht ermessen, wie belastend diese Sprache für unsereinen war, wie ein Buckel, den man loswerden wollte. Wir wollten uns assimilieren und Amerikaner werden. Wenn einer von uns etwas auf Deutsch sagte, sagte der andere: Hast du gerade ein deutsches Buch gelesen? Statt eines VW-Käfers kaufte ich lieber eine schlechte britische Karre. Es war auch klar, dass wir unseren beiden Kindern kein Deutsch beibringen. Heute werfen sie uns das vor.
Ihr Ex-Mann lebte seit 1939 in den USA und kämpfte ab 1944 als US-Soldat gegen die Deutschen. Im Mai 1945 war er an der Befreiung des KZs Wöbbelin in Mecklenburg beteiligt, später erfuhr er, dass sein Vater in Auschwitz ermordet wurde. Wollte er, anders als Walser, wissen, was Sie in KZs erlebt hatten?
Nein. Als er eine Vorlesung über die Hitlerzeit hielt, bot ich an, mit seinen Studenten eine Stunde lang über Konzentrationslager zu sprechen. Er war entsetzt, das wolle er auf keinen Fall. Eine Zugbrücke ging hoch. Er selbst hat auch nie etwas von meinen Erlebnissen wissen wollen, absolut nichts. Er hat immer sofort abgelenkt. Dafür hat er mir sehr viel über seine Erlebnisse im Krieg erzählt. Als er schilderte, wie eiskalt ihm im Winter 1944/45 war, fasste ich mir ein Herz und sagte, mir war kälter, du hast warme Kleidung und gute Decken gehabt, ich hatte Zeitungspapier an den Füßen. Er geriet aus der Fassung. Entweder hatte er nie daran gedacht, oder er war der Meinung, dass ich meine Erlebnisse gefälligst runterschlucken soll, weil Kriege den Männern gehören. All das gehört zu meinem Misstrauen Männern gegenüber. Diese Beziehung war der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Ich fühlte mich wie im Gefrierfach eines Kühlschranks. Ich war von Anfang an nicht für die Ehe gemacht. Ich tauge nicht zur Hausfrau. Ich wollte meinen eigenen Beruf haben.
Haben Sie je wieder mit einem Mann zusammengelebt?
Lieber nicht. Es gab schon Männer hier und da, aber nicht zum Zusammenleben. Ich war froh, frei zu sein. Ich habe die Ehe wirklich als eine Bedrückung empfunden.
In Ihren prägenden Jahren hatten Sie es mit Männern zu tun, die Naziuniformen trugen, Befehle brüllten und mit Peitschen schlugen. Standen diese Bilder zwischen Ihnen und der Männerwelt?
Kann sein. Wie soll ich das wissen? Die Machtstruktur, in der ich in den Lagern gelebt habe, war männlich gezeichnet, mit schwarzen Stiefeln, Militäruniformen und allem, was dazu gehört. Von dieser Männermacht habe ich mich ferngehalten. Ich wollte unauffällig sein, darum auch nicht weinen. Weinen ist auffällig.
Träumen Sie von Konzentrationslagern?
Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an meine Träume nicht. Vor vielen Jahren hatte ich das Gefühl, ich träume von leeren Landschaften, in denen es furchtbar einsam ist. Aber was sich da abspielt? Ich weiß nicht einmal, ob in meinen Träumen geredet wird, und wenn ja, ob auf Deutsch oder auf Englisch. In meiner Geburtsstadt wurde die Traumdeutung erfunden, aber ich denke, es gibt gute Gründe, warum unsere Psyche verdrängt, was ihr nicht in den Kram passt. Ich frage mich manchmal, ob meine Katze Träume hat. Bei Hunden merkt man manchmal, dass sie träumen. Wenn sie im Schlaf plötzlich zu laufen beginnen, sind sie hinter etwas her.



Die Preise und Auszeichnungen, die Sie bekommen haben, kommentierten Sie mit der sarkastischen Bemerkung: »Wenn eine Tierart fast ausgestorben ist, weil sie so intensiv gejagt worden ist, werden die übriggebliebenen Exemplare besonders gepflegt.«
Man behandelt die Überlebenden der Shoah mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht. Krebskranke und Krüppel kennen diese Distanz. Unter Juden kann die Abneigung noch stärker sein. Durch die falsche Logik des Unbewussten wird unser Über­leben für all jene zum Vorwurf, die unbehelligt leben durften.
Viele KZ-Überlebende leiden ihr Leben lang unter einem Schuldkomplex. Sie auch?
Ich habe lange gedacht, mir sei die berühmte Überlebensschuld fremd. Ich hatte ja nichts angestellt, wofür sollte ich büßen? In den vergangenen Jahren sagt mir aber ein Gefühl, du hast nicht überlebt, du gehörst zu den toten Kindern, ein Teil von dir ist in den Lagern geblieben, du gehörst zu einer anderen Welt. In einem Gedicht von mir ist vom Galgenplatz die Rede, auf dem der Flieder blüht. Dieses Bild trifft mein Leben.
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Mein Glaube an eine höhere Macht wurde immer dünner, und dann war er nicht mehr da

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Wie gegenwärtig sind die drei Jahre im KZ in Ihrem Kopf?
Die Gespenster, die sich in den Lagern bei mir eingenistet haben, sind Teil meines Lebens, aber sie bringen mich nicht dazu, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Ich bin nie zu Versammlungen der Holocaust-Überlebenden gegangen. Ich habe die Opferrolle schon 1938 abgelehnt. Andererseits habe ich mir meine Auschwitznummer erst vor zwanzig Jahren weglasern lassen. Sie hatte viele aggressiv gemacht oder abge-stoßen, wohl als Symbol der Erniedrigung. Bleib mir vom Leib damit!, war die häufigste Reaktion. Ein älterer Universitäts-professor fragte, wer mir das Recht gebe, wie ein Mahnmal herumzulaufen. Der Mann war Jude. Untersuchungen über den jüdischen Selbsthass füllen ganze Bibliotheken.



Verblassen Ihre Erinnerungen, wie alte Fotografien?
Die entscheidenden Erinnerungen bleiben. Sie sind wie festgefroren. Ich muss mich an die Selektion nicht erinnern. Sie ist seit 73 Jahren immer wieder da. Die grellste Erinnerung aus Auschwitz-Birkenau ist, wie meine Mutter bestraft wird und auf Steinen kniet. Mein Gefühl war, Zeugin von etwas ganz Ungehörigem zu sein.
Sind Ihnen Ihre Erinnerungen manchmal fremd?
Sie sind der Person fremd, die ich seither geworden bin. Man schält einen Menschen aus sich heraus, und dann noch einen, und dann noch einen. Diese verschiedenen Leben sind der einzig lohnende Grund, alt zu werden. Ich bin heute ein anderer Mensch, als ich mit sechzig war. Alles andere am Altern ist langweilig. Schlafen gehen, aufwachen, Zähne putzen, duschen, abtrocknen, essen müssen, trinken müssen – was soll das alles? Immer das Gleiche, außer dass es anstrengender wird. Das müsste eigentlich aufhören, denkt man sich. Und wahrscheinlich ist es auch gar nicht mehr so lang hin.
Vor einem Vierteljahrhundert schrieben Sie: »Nur an meinen Unversöhnlichkeiten erkenn ich mich, an denen halt ich mich fest. (...) Verzeihen ist zum Kotzen.« Sind Sie heute das geworden, was man altersmilde nennt?
Ich werde immer wieder gefragt, verzeihst du den Deutschen, hast du dich mit ihnen versöhnt? Das ist unmöglich. Die Jauche meiner Vergangenheit hört nicht auf, an die Oberfläche zu kommen. Außerdem bin ich nicht befugt, stellvertretend den Mord an sechs Millionen Menschen zu verzeihen. Das Bewusstsein der Absurdität des Ganzen sitzt bei mir aber tiefer als die Empörung über das große Verbrechen. Die Shoah war eine völlige Sinnlosigkeit. Niemand hat was davon gehabt, dass ich als verhungertes Sträflingskind Eisenbahnschienen getragen habe, statt auf einer Schulbank zu sitzen.
1992 sagte Ihnen ein Kardiologe, Sie hätten wegen eines Herzfehlers im besten Fall noch drei Jahre zu leben. Was haben Sie an Ihrem Leben geändert?
Nicht viel. Ich hatte keine Angst vorm Sterben. Ich habe sie jetzt auch nicht. Ich hatte sie nicht einmal in meinen letzten Wochen in Auschwitz. Warum nicht sterben? Ich möchte ganz gern noch ein bisschen weiterleben, es ist interessant, aber ich muss nicht. Niemand ist mehr von mir abhängig, das erzeugt Einsamkeit. Ich bin schwerhörig und vergesslich, und das Leben wird einförmiger, weil eine Freundin nach der anderen stirbt. Meine Rettung bei der Herzgeschichte war übrigens eine Wunderoperation in Deutschland. Die Klinik lag nicht weit entfernt vom Konzentrationslager Groß-Rosen, wo ich Zwangsarbeiterin gewesen war. Und siehe da, ich lebte lustig weiter.
Bevor Sie Hochschullehrerin wurden, hatten Sie in einem »Bookmobile« gearbeitet, einem Bus, der in eine fahrbare Ausleihbibiliothek umgewandelt worden war und Vorstadtbewohner mit Lektüre versorgte. Was lesen Sie zurzeit?
Nachdem dieses Trampeltier Trump gewählt worden ist, habe ich noch mal die Romane von Jane Austen gelesen, einen nach dem anderen. Diese Welt ohne Politik war sehr gut, um von dem Schrecken wegzukommen. Austen war mein Gegengift zu Trump. Ihre Romane haben ein Rückgrat und sagen etwas darüber, wie sich die Menschen miteinander und zueinander verhalten sollen. Jetzt wäre es eigentlich Zeit für Die Brüder Karamasow, aber bei Dostojewski wird mir zu viel an Gott geglaubt. Ich habe mal eine Liste gemacht mit den großen Langweilern der Weltliteratur. Darauf standen Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust und Moby Dick von Herman Melville. Gegen den heftigen Widerstand von Freunden habe ich auch Das Schloss von Franz Kafka auf die Liste gesetzt.
Vor einiger Zeit sagten Sie, Sie schrieben an einem Roman. Was ist aus Ihrem Debüt als Belletristin geworden?
Ich bin steckengeblieben. In dem Roman geht es darum, dass unser Leben weitgehend vom Zufall abhängt. Ich glaube nicht an Vorbestimmung oder Karma-Theorien, wonach unser Schicksal das Ergebnis unserer Handlungen ist. Es ist ein Zufall, dass Trump Präsident ist. Joe Biden hätte die Wahl gewonnen, hätte er nicht wegen des Todes seines Sohnes aufgegeben. Auch Auschwitz war nur ein grässlicher Zufall. Warum musste Deutschland so einen verdammt blöden Kaiser haben? Er hätte Hitler verhindern können. Sie merken, ich bin zufallsbesessen. Wenn man es dem Zufall verdankt, nicht in den Gaskammern von Auschwitz gestorben zu sein, lässt einen das Thema nie wieder los.

Wird einer, der glaubt, alles sei Zufall, Nihilist?
Nein, er beginnt, die Freiheit zu lieben. Wer an Zufall statt an Notwendigkeit glaubt, hat die freie Wahl. Freiheit ist nur möglich, wo der Zufall weilt. Wäre alles vorbestimmt, wäre es egal, welche Entscheidungen wir treffen. In meinem unfertigen Roman gibt es drei Frauen, die immer wieder zum Glücksspiel nach Las Vegas fahren. Eine von ihnen, eine jüdische Deutschamerikanerin, wird davon geplagt, sich für alles verantwortlich zu fühlen. Sie denkt bei allem, was geschieht, sie hätte es besser machen müssen. Am Ende kommt sie auf das Zufallsprinzip und lässt in der letzten Szene mit großer Freude die Würfel über den Spieltisch rollen. Sie weiß, von jetzt an ist sie frei.
Sind Sie Glücksspielerin?
Ich fahre manchmal mit Freunden für zwei, drei Tage zum Spielen nach Las Vegas.
Roulette?
Nein, mich treibt es immer wieder zum Black Jack. Bei diesem Spiel hat man das Gefühl, eine gewisse Kontrolle über die nächste Karte zu haben. Das ist natürlich falsch, aber es nährt den Wunsch des Spielers nach Selbstbestimmung. Dostojewski hat viel Geld verloren, weil er meinte, wenn eine Zahl dreißig Mal nicht kommt, ist es höchst wahrscheinlich, dass sie beim nächs-ten Mal kommt. Aber Zahlen haben kein Gedächtnis, und der Zufall auch nicht. Spieler können das nicht akzeptieren. Sie glauben, was Schiller im Lied von der Glocke über das Kind sagt: »Ihm ruhen noch im Zeitenschoße / die schwarzen und die heitern Lose.« Das ist aber nicht wahr. Im Zeitenschoße ruht nur eins: der Zufall, das Irgendwas. Fragen Sie Quantenphysiker: Gott würfelt. Auch wenn Einstein es abgestritten hat.

Haben Sie je an Gott geglaubt?
In Auschwitz habe ich geglaubt, Gott wird mich nicht umkommen lassen, weil ich so schöne Gedichte verfasse. Eine mit dieser Fähigkeit wird er durchkommen lassen. Aber mein Glaube an eine höhere Macht ist immer dünner geworden, und dann war er nicht mehr da – als hätte sich eine Flüssigkeit verflüchtigt oder als wären einem Mann langsam die Haare ausgefallen.
Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex sagte einmal: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.« Richtig?
Der Satz bringt die Verschiebung von Schuldgefühlen auf die Opfer auf den Punkt. Er ist dem Göring-Wort verwandt: »Wer ein Jude ist, bestimme ich!« Man kann damit sowohl Judenfreund als auch Judenfeind sein. Doch die deutschen Nachkriegsgenerationen und die Emigrantenpolitik der Merkel-Regierung widersprechen diesem Zynismus. Das heißt, die Auseinandersetzung mit der Nazizeit hat aufgeklärt und progressiv gewirkt.
Gibt es für Sie eine Zeit, die Ihnen im Rückblick wie das eigentliche Leben vorkommt, sodass alles Spätere nur noch Wiederholungen und Variationen dieser entscheidenden Lebensphase waren?
Es gab eine Zeit, in der ich richtig glücklich war. Das war der Sommer 1945. Ich war frei, die Sonne schien, und alles blühte wie verzaubert. Ich habe Schwimmen und Radeln gelernt. Es war ganz einfach, ich habe mich draufgesetzt und bin losgefahren. Das war eine Ausweitung des Lebens, wie ich sie nie vorher und nie nachher erlebt habe. Dieser Sommer steckt in mir, er hat mir Kraft gegeben.