Interesting piece in today's Tagesspiegel about the ironies of Verhüllung as a new Leitkultur:

Jost Müller-Neuhof: ‚Wenn Gesichtsverhüllung plötzlich Pflicht wird‘, Tagesspiegel, 27.04.2020, S. 6:


Der Kampf gegen Schleier und Burka macht Pause. So wichtig scheint es nicht zu sein, dass Gesichter immer sichtbar sind. Ein Kommentar.

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In vielen Bundesländern wird die Maske ab Montag zum Pflichtstoff.


Ab diesem Montag droht mit der Maskenpflicht in vielen Bundesländern ein nie da gewesener Gesichtsverlust. Nicht nur, weil der Staat erstmals zu einer solchen Maßnahme greift. Sondern auch, weil sie, zumindest auf den ersten Blick, auffällig mit einem noch recht neuen gesetzgeberischen Programm kontrastiert.

Angela Merkel hatte sich Ende 2016 bei einem CDU-Parteitag mit der Forderung beliebt gemacht, Verschleierungsverbote überall dort zu verhängen, wo es möglich sei; ihr Innenminister Thomas de Maizière propagierte im Anschluss eine Art Benimm-Leitkultur („wir sind nicht Burka“), der zufolge man Gesicht zu zeigen und sich die Hände zu schütteln habe. Von der Straßenverkehrsordnung über das Beamtenrecht bis zum Soldatengesetz gab es neue Regeln, um Gesichtsverhüllung zu untersagen. Bayern setzte noch Unis und Kindergärten drauf.

Mit der Sonnenbrille am Steuer wird es tückisch

Und jetzt die Maske? Rechtlich fügt sie sich ein, die meisten Vorschriften kennen Ausnahmen für den Gesundheitsschutz. Tückisch kann es am Steuer werden. Wer allein unterwegs ist, muss niemanden schützen, da wirkt die Maske verdächtig. Die Polizei will Sorgen dämpfen, indem sie betont, dass Menschen über die Augenpartie erkennbar blieben. Was zu gewährleisten nicht immer möglich ist, wenn eine Sonnenbrille nötig wird. Dass hier forsch geahndet wird, ist daher ebenso unwahrscheinlich wie bei möglichen Verstößen gegen das Vermummungsverbot auf Demos; zumal dies strafrechtlicher Natur ist und den Vorsatz erfordert, nicht identifiziert werden zu wollen. Brave Maskenbürgerinnen und Maskenbürger werden jedoch bei Erkennungsbedarf jederzeit ablegen.

Der Fall könnte damit erledigt sein – wenn Verhüllungsverbote nötig wären. Das sind sie eher nicht. Sie zielen, siehe Merkel und Parteitag, auf Ausschaltung einer kulturellen Differenz, die, auch wenn sie im Alltag fast unsichtbar ist, als unerträglich empfunden wird. In Wahrheit ist nicht das teilverdeckte Gesicht problematisch, es ist die Art der Verhüllung, es sind ihre Traditionen und Motive.

Die Maskenpflicht legt Widersprüche bloß

Die nun allseits offensiv befürwortete Maskenpflicht legt solche Widersprüche bloß. Sie zeigt, dass es sich ganz gut unter veränderten Umständen in der Öffentlichkeit mit verhüllten Gesichtern reden und leben lässt (wenngleich Schleier bequemer wären). Ein Augenblick bekommt wieder mehr Bedeutung; auch ohne freie Sicht auf Mund und Nase kann man sich kennenlernen, auch mit gebotenem Abstand einander näherkommen. Sicher, es ist anders. Aber ist es schlimm? Corona zwingt zu manchem Eingeständnis. Auch diesem: Leitkultur besteht wesentlich darin, wie schnell sie sich ändert.


with good wishes for your health and well-being, whatever spot you're (stuck) in...

Moray


Moray McGowan
Emeritus Fellow and former Professor of German (1776),
Trinity College Dublin

Moray McGowan
Comhalta Emeritus agus iar-Ollamh na Gearmáinise (1776),
Coláiste na Tríonóide, Baile Átha Cliath


From: JISCmail German Studies List <[log in to unmask]> on behalf of Henrike Laehnemann <[log in to unmask]>
Sent: 26 April 2020 08:51
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Subject: NZZ.ch: Alles wird ungewiss und unverständlich? Dann ist uns nur noch mit Gedichten zu helfen
 

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Alles wird ungewiss und unverständlich? Dann ist uns nur noch mit Gedichten zu helfen
Wer die Welt nicht mehr versteht, versuche es mit Poesie. Sie lehrt uns das Glück des Unbegreiflichen.

Roman Bucheli 24.04.2020, 05.30 Uhr

Werden wir die Welt noch einmal sehen, wie wir sie als Kinder sahen: fassungslos in eine unerschöpfliche Rätselhaftigkeit hineinstaunend? Wir blieben uns selbst ja lange ganz unbegreiflich, ebenso wollte um uns herum das Unfassbare kein Ende nehmen.

Wenn wir es genau bedenken, hat die Undurchdringlichkeit des Daseins und aller Dinge seither gar nicht mehr aufgehört. Also haben wir angefangen, alle Gegenstände und uns selbst bei einem Namen zu nennen, einzuordnen und festzuzurren, kurz: zu bändigen. Danach bildeten wir uns fröhlich ein, das meiste von der Welt (und manchmal sogar von uns selbst) verstanden zu haben.

Wir glaubten, etwas gelernt zu haben, lernten noch mehr und dachten, das sei ein Fortschritt. Unbemerkt aber ging uns dabei etwas verloren, was vielleicht nicht zu den teuersten, aber gewiss zu den schönsten und damit unentbehrlichsten Gütern gehört: die erregende Fassungslosigkeit des Kindes vor einer Welt, die ein stets neu zu entdeckendes Mysterium bleibt. Schleichend kam uns alsbald vieles um uns herum auch bis zum Überdruss bekannt vor.

In der Schule des Staunens

Das Coronavirus verwandelt uns zurück in Kinder, da wir verblüfft (und mitunter angstvoll) vor einer Welt stehen, die wir nicht mehr begreifen. Weil hier etwas Unsichtbares sein Unwesen treibt und weil dieses Unsichtbare bis vor kurzem auch sonst keiner kannte. Und wenn wir ihm inzwischen einen Namen gegeben haben (das ist ja ohnehin immer das Erste, was uns in solcher Schockstarre der Hilflosigkeit einfällt), so hat ihm das bis dahin nichts von seinem Schrecken geraubt.

Vermutlich werden wir nun während geraumer Zeit Gelegenheit haben, einen intimeren Umgang einzuüben mit dem, was unseren Alltagsverstand übersteigt. Wir werden wieder lernen müssen, dass die schöne, saubere, unzweideutige Erkenntnis die Ausnahme, das irritierende, verstörende, nervös machende Unverständnis hingegen die Regel ist.

Ich wüsste nun freilich keinen freundlicheren Ort, um in diese Schule des Unfassbaren zu gehen, als das Gedicht. Warum das so ist? Weil noch das leichteste, scheinbar eingängigste Gedicht unsere Wahrnehmung durchkreuzt und uns das Staunen lehrt. Weil uns das Buchstabengestöber und die Wortklänge der Verse verzaubern, noch ehe wir auch nur ein Wort verstanden haben.

Jüngst kamen mir zwei neue Gedichtbände in die Hand, die ich gleichzeitig nebeneinander lese. Aber nicht, wie ich andere Bücher lese. Nicht von vorne nach hinten, auch nicht lange am Stück, nie zwanzig oder dreissig Seiten aufs Mal. Die beiden Bücher sind mir eher wie den Mönchen das Brevier. Denn mehrmals täglich schlage ich sie auf, lese da eine Seite oder auch zwei, bei der nächsten Gelegenheit bleibe ich an einer anderen Stelle hängen, manchmal auch immer wieder bei den gleichen Stücken.

Das kommt dem Ritus des mönchischen Gebets durchaus nahe. Sooft ich die Texte anschaue und in ihre Worte hineinhorche, kommt mir ein anderes Echo daraus entgegen. Ich würde nicht sagen, dass ich sie deswegen immer besser oder immer anders verstehe, ich würde noch nicht einmal behaupten, dass ich sie überhaupt verstehe.

Nicht etwa, weil sie so schwierig wären. Vielleicht gerade, weil sie so einfach sind, schrecke ich davor zurück, sie voreilig verstehen zu wollen. Denn sie handeln, ohne davon ein grosses Aufheben zu machen, in einer Art sprachlicher Schwerelosigkeit, von ersten und letzten Dingen, vom Leben und vom Sterben. Was könnte aber in solchen Fragen denn Verstehen schon bedeuten? Ich begnüge mich darum einstweilen einfach damit, Tag für Tag mich stets nur mehr zu wundern.

Es sind zwei Gedichtbände, die man sich unterschiedlicher nicht denken könnte. Zum einen lese ich die luziden, leise ins Melancholische neigenden Gedichte der italienisch-schweizerischen Dichterin Lina Fritschi (1919–2016), Tochter eines ausgewanderten Schweizers und einer Italienerin. Als junge Frau schon hatte Lina Fritschi ihren Mann bei einem Flugunfall verloren.

Nun hat der Übersetzer Christoph Ferber, dem wir so viele lyrische Entdeckungen zu verdanken haben, aus Fritschis Spätwerk mit sicherer Hand und genauem Sprachgefühl eine Auswahl ins Deutsche gebracht. Darin begegnen wir einer Dichterin, die im Alter erblindet war und ihre ganz andere Sehkraft nach innen wandte. Hier spricht sie zu den Toten ihres Lebens. Und hier sieht sie sich selbst, die fast hundertjährig wurde, ihrerseits den nicht enden wollenden langen Weg hinüber zu den Toten gehen.

Daneben liegt dieses ganz anders geartete Buch des im Waadtland geborenen Dichters Philippe Jaccottet, der seit fast siebzig Jahren in Frankreich lebt und am 30. Juni 95 Jahre alt wird. Seine beiden Freunde und langjährigen Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz haben aus Jaccottets späten Werken poetische Texte herausgegeben, die allen Zwang der Form abgelegt haben und ganz in ein heiteres Selbstgespräch versunken sind, etwas wehmütig der Welt zugewandt, gelassen fast den Tod erwartend.

Ein alt gewordenes Kind

Nichts verbindet diese beiden im Ton und in den Motiven so ganz eigenwilligen Werke, nichts, bis auf dieses eine und alles Entscheidende, weswegen ich sie gerade in diesen Tagen mit mir herumtrage und nicht müde werde, darin zu lesen: Beide gehen sie unentwegt staunend durch ihre Welten. Überall sehen sie Zeichen und Wunder, Kindern gleich, die ihre kleine Welt zum ersten Mal erkunden.

Lina Fritschi sieht auf der Innenseite ihrer dunkel gewordenen Augen Traum- und Erinnerungswelten aufleuchten. Einmal besucht sie der verunglückte Mann im Schlaf und fordert sie auf, mitzukommen: «Gehen wir? – sagst du zu mir, / und blau und tief leuchten mir / deine fernen Augen.» Oder sie sieht ihre Eltern, die sich bis in den Tod liebten, obwohl der Vater zuerst nur Deutsch, die Mutter aber «ein sanftes, präzises Italienisch» sprach: «vielleicht / suchten beide für immer / im andern das Unbekannte, das Fremde».

Das wäre der Imperativ, der aus diesen Zeilen spricht: Mögen wir auch die Sprache der Gedichte verstehen, so sollen sie uns doch immer aufhorchen lassen, fremd und unbekannt sollen sie uns bleiben, damit wir nicht aufhören, ihren stilleren und entlegeneren Klängen nachzuforschen. An diesem äussersten Punkt berühren sich die im Übrigen so fernen Sphären von Fritschis und Jaccottets Dichtungen.

Wie ein sehr alt gewordenes Kind geht Jaccottet durch seinen Garten, wo ihn ein Rotkehlchen begleitet, er läuft über Wiesen und steht fassungslos vor dem Licht der Ackerwinden, er begegnet einem Eisvogel und erkennt in ihm einen nahen Verwandten jener «erlauschten Worte, die man nie sicher versteht, doch ebenso wenig wieder vergisst». Das Staunen auch vor den gewöhnlichsten Erscheinungen nimmt hier kein Ende, denn stets bleibt das Unfassbare grösser als die Vorstellungskraft.

Es sind Abschiedsgänge, die Jaccottet im Garten unternimmt, und Abschiedsgesänge sind seine Texte. Kein Allerweltskraut ist ihm zu gering, um darin nicht ein rätselvolles «Stück Welt» zu finden. Müsse er sich vorstellen, so fragt er sich, dieses Unbegreifliche sei so etwas gewesen «wie ein Kitt, der uns für ein paar Augenblicke miteinander verband»?

Mit blinden Augen nach innen schauen wie Lina Fritschi, durch Wiesen gehen wie Jaccottet und das tausendfach Gesehene betrachten, als wär’s zum ersten Mal: So versuche ich in diesen Büchern zu lesen. Immer nur wenig, eine Seite, höchstens zwei. Und auch wenn ich jedes Wort verstehe, so habe ich dennoch bisher erst wenig verstanden. Ich bin noch ganz Anfänger, aber nicht darin, die Gedichte zu verstehen. Ich versuche darin besser zu werden, sie nicht zu begreifen.
***

Lina Fritschi: Ein anderer Traum. Un altro sogno. Gedichte Italienisch und Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Christoph Ferber. Limmat-Verlag, Zürich 2020. 152 S., Fr. 39.90.

Philippe Jaccottet: Die wenigen Geräusche. Späte Prosa und Gedichte. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl-Hanser-Verlag, München 2020. 160 S., Fr. 33.90.


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