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31. Januar 2020, 10:39 Uhr

EU-Austritt von Großbritannien:Wir kommen wieder

Nun ist er da, der Brexit-Day. Ich werde nicht weinen und mich nicht betrinken. Und die Hälfte meines Landes wird nicht aufhören, europhil zu sein.

Gastbeitrag von Julian Barnes

Einige meiner Freunde werden an diesem Tag weinen, andere werden immer noch stinkwütend sein. Manche werden sich vielleicht betrinken (mit europäischem Wein oder Bier), andere ihre Lieblingsstücke aus der europäischen Musik auflegen oder ihre Lieblingsstellen aus der europäischen Literatur lesen. Ich glaube, ich werde die Sache ignorieren, so tun, als wäre das ein ganz normaler Tag, obwohl er das nicht ist. Das ist kein Verleugnen und keine Gleichgültigkeit. Ich bedaure und beklage unseren Austritt aus Europa wie andere auch; ich halte ihn für einen Akt masochistischer Verblendung. Aber ich glaube auch, dass die Geschichte zyklisch verläuft; und weiter, dass das halbe Land meine Begeisterung und Bewunderung für Europa teilt, und dass dies alles überstehen wird, was unsere Regierung sonst noch an Torheiten für uns bereithält. Als wir 1973 dem Gemeinsamen Markt beitraten, war ich ein 27-jähriger Europhiler; 46 Jahre später bin ich ein noch größerer Europhiler. Mein einziger Vorsatz für dieses erste Jahr unserer Lossagung ist, dass ich noch mehr Zeit in Europa verbringe als sonst.

Der französische Schriftsteller Barbey d'Aurevilly (1808 - 1889) kommentierte den puritanischen Moralismus Großbritanniens zu Beginn des viktorianischen Zeitalters so: "England, ein Opfer seiner historischen Größe, hat einen Schritt in die Zukunft gemacht, und jetzt hockt es wieder in seiner Vergangenheit."

"Es gehört zum Wesen einer Nation, dass sie ihre Geschichte missversteht", sagte ein kluger Franzose

Das gilt für heute auch. Viele, die den Brexit unterstützt und dafür gestimmt haben, bezogen sich auf die glorreiche Vergangenheit Großbritanniens, wobei manche bis auf die Schlacht bei Crécy im Jahre 1346 zurückgingen; aber viele hoben auch speziell darauf ab, dass wir 1940 "allein gestanden" hätten und diese Isolation das Beste in uns als Nation zum Vorschein gebracht habe. Nun, wir standen "allein" bis auf die Militärkraft des gesamten Commonwealth - Indien, Kanada, Australien, Neuseeland ... Aber gut, wie ein anderer kluger Franzose, Ernest Renan, sagte: "Es gehört zum Wesen einer Nation, dass sie ihre Geschichte missversteht." Das ist gewiss wahr: Wir wissen alle, dass jedes Land einen Gründungsmythos braucht. Renan sagt damit aber auch etwas, das verstörender ist: dass jedes Land eine wahnhafte Mythologie braucht, die es aufrecht hält.

General de Gaulle verhinderte mit seinem Veto zwei Mal den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt, weil er fand, wir seien nicht communautaire - wir hätten keinen Gemeinschaftssinn. Und er hatte weitgehend recht. In den letzten 47 Jahren haben sich nur wenige britische Politiker aus moralischen Gründen für Europa eingesetzt oder sich getraut, eine einfache Wahrheit auszusprechen: dass dies die größte politische Errungenschaft zu unseren Lebzeiten war.

Stattdessen haben britische Regierungen im Sinne des Eigeninteresses ökonomisch argumentiert. 1998 habe ich einen Roman geschrieben, "England, England", der in einer Zukunft (ungefähr jetzt) spielt, in der das Vereinigte Königreich dafür stimmt, aus Europa auszusteigen, und es schafft, "die Verhandlungen mit derart verbohrter Irrationalität zu führen, dass man ihnen für den Auszug am Ende noch Geld zahlte". Falls mich an diesem traurigen Tag jemand um eine neue Prophezeiung bitten sollte, würde ich sagen: Wir kommen wieder (wenn ihr uns haben wollt). Die Hälfte des Landes wird nicht aufhören, europhil zu sein, nur weil die andere Hälfte sich entschieden hat, wieder in der Vergangenheit zu hocken. Von heute an sind wir keine Remainers mehr, von nun an sind wir Returners.

Als ich Ende der 1950er-Jahre zum ersten Mal nach Europa kam, war das eine wildfremde und leicht beängstigende Gegend. Meine Eltern machten mit meinem Bruder und mir alljährlich eine Autotour durch die französische Provinz. Wenn wir, was äußerst selten vorkam, ein anderes britisches Auto sahen, winkten wir ihm zu: eine Gemeinschaft von Fremden in einem fremden Land.

Aber jetzt ist Europa nicht mehr fremd, und die jüngere Generation, die zu gegebener Zeit an die Macht kommen wird, ist viel in der Welt herumgekommen. Was man einmal weiß, kann einem niemand mehr nehmen; was man einmal gefühlt hat, kann man nicht ungeschehen machen. Also ist die Frage eigentlich nur, wann wir wieder zur Vernunft kommen; und ob ihr uns dann noch haben wollt. Ich hoffe es.

Julian Barnes ist Schriftsteller. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Roman "Die einzige Geschichte". Übersetzung von Gertraude Krueger.

 

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