Brexit

Wir sind alle britisch, thank God

Die Weltsprache Englisch, das Telefon und der Liberalismus. Die Popmusik, der Dandy und mächtige Frauen: Die moderne Welt ist britisch geprägt. Wir brauchen mehr Grossbritannien, sicher nicht weniger.

20.03.2019

Von Peter Keller

Es gibt gerade kein Halten. Briten-Bashing auf allen Kanälen. Der Tages-Anzeiger feixt: «Führungslos ins Chaos». Der Spiegel überbietet sich mit Wortspötteleien: «Komplizierter als Shakespeare», «House of Chaos», «Kleinbritannien». In der deutschen Talkshow «Maischberger» versucht man sich in psychologisierender Einordnung: Die Regierung May würde sich verhalten «wie ein Empire, das es schon lange nicht mehr gibt».

Die erste Kränkung wegen des Brexits ist längst einer halbstarken Mischung aus Hohn und Demütigung gewichen. Dabei gibt es wenig Grund, sich über Grossbritannien erhaben zu fühlen. Der britische Historiker Niall Ferguson zeichnet in seinem Bestseller «Empire. How Britain Made the Modern World» nach, wie ein relativ kleiner Inselstaat am Rande Europas die moderne Welt formte. Wir sind alle britisch – und es sind nicht die schlechtesten Eigenschaften und Errungenschaften, die von England aus den Globus eroberten.

Wir verdanken den Briten die Weltsprache Englisch, den Parlamentarismus und die Coolness. Sie erfanden den Tourismus, das Telefon und kohlensäurehaltige Getränke. Adam Smith legte die gedanklichen Grundlagen zum Liberalismus, der bis heute die Voraussetzung (Arbeitsteilung, Marktwirtschaft, Verteilung, Aussenhandel, Rolle des Staates) unseres Wohlstandes und unserer freiheitlichen Gesellschaft bildet. Monty Python deregulierte den Humor, Millionen auf allen Kontinenten rennen einem Fussball hinterher. Das Spiel und die ersten Regeln dazu – das Abseits existiert seit 1866 – entstanden an der Universität Cambridge. Tennis in seiner heutigen Form ist ebenso very British wie auch Fairness als Umgangsform im Sport und darüber hinaus.

Protestantismus und Privatinitiative – Am Anfang des Empires war die Abwendung vom kontinentalen Europa. Über hundert Jahre lang (1337–1453) hatte sich England mit Frankreich kriegerisch herumgeplagt, und bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts konzentrierten sich die britischen Exporteure ganz auf die Märkte jenseits des Ärmelkanals. Erst unter Elizabeth I, die 1558 den Thron bestieg, wurde England von einer Kontinentalmacht zu einer Insel und schliesslich «in einem Anfall von Geistesabwesenheit», wie der britische Historiker John Robert Seeley meinte, zu einer Weltmacht aus Versehen.

Tatsächlich gab es zunächst keinen politischen Plan für ein weltumspannendes britisches Imperium. Die Initiative ging von Privatleuten aus. Wagemutige Unternehmer stiegen in den Überseehandel ein, die von Kaufleuten 1600 gegründete English East India Company trieb Entdeckungsfahrten voran, eigens ins Leben gerufene Aktiengesellschaften sicherten sich Ländereien jenseits der Ozeane. Erst später habe die Krone «eine Art Sicherheitsgarantie übernommen», etwa für die von frommen und arbeitsamen Puritanern gegründete Amerika-Kolonie Virginia, so der Historiker Peter Wende.

Diese Pilgerväter sind ökonomische Migranten, und im Gegensatz zum kunterbunten Haufen aus Haudegen und Abenteurern der Konquistadoren wandern sie mit ihren Familien aus und vermehren sich gottgefällig. Noch ein Unterschied zeichnet die neuen Kolonisatoren aus, wie Niall Ferguson süffisant anmerkt: Während die Spanier Tonnen von Gold in ihre Heimat schipperten und es dort krachen liessen, plünderten die Engländer ihre Kolonien zwar auch aus, aber sie reinvestierten einen grossen Teil der Gewinne: Sie bauen Zuckerrohr an, Tabak, Baumwolle. Die Verbindung von Religion und Kommerz bilden die Grundpfeiler der englischen Kolonien in Nordamerika und das erfolgreiche Schmiermittel für die künftige Supermacht USA.

Über zwanzig Millionen Briten wandern aus nach Amerika, Südafrika, Neuseeland und Australien, sie bilden das demografische Fundament der «weissen Kolonien» (Ferguson). Zusammen mit dem indischen Subkontinent und halb Schwarzafrika beherrscht die britische Krone zuletzt ein Viertel der Erdoberfläche, das grösste Imperium der Weltgeschichte.

 

Britzerland – Das Schweizer Freiheitsverständnis steht der britischen liberty wesentlich näher als dem zentralistischen Staatsdenken unseres unmittelbaren Nachbarn Frankreich. Das erklärt auch die mentale Distanz der Briten und Schweizer zu einer EU, die sich zunehmend bürokratisch und dirigistisch gebärdet. Nicht umsonst gilt unser Land als der angelsächsischste Staat Kontinentaleuropas.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt der Schweizer Tourismus einen einzigartigen Aufschwung. Wesentlichen Anteil daran haben die Briten. Edward Whymper besteigt als Erster die Ikone der Alpen, das Matterhorn. Im Sommer 1863 organisiert der Reisepionier Thomas Cook die erste Pauschaltour in die Schweiz, ein absoluter Marketingkracher war die Reise von Queen Victoria nach Luzern. Auf der Insel Wight, ihrem bevorzugten Landsitz, lässt die Monarchin für ihre Kinder ein «Swiss Cottage» errichten, ein einem Berner Chalet-Stil nachempfundenes Spielhaus. Der Brexit könnte die beiden splendid Aussenseiter noch weiter zusammenrücken lassen.

 

Shakespeare – Für jeden Charakter, für jeden menschlichen Abgrund, für jede politische Intrige, selbst für den zeitgenössischen Antisemitismus hat der Dichter aus Stratford eine dramatische Vorlage geschaffen. William Shakespeare, von dem ausser ein paar Lebensdaten fast nichts bekannt ist, steht am Anfang der modernen Literatur. «Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft nicht zum Sklaven macht», spricht Hamlet in Shakespeares gleichnamigem, um 1600 entstandenem Theaterstück. Von Hamlet führt eine direkte Linie zu Romeo und Julia und anderen literarischen Figuren, die uns und unser Verständnis von Liebe ausmachen: der junge Werther, Tristan und Isolde, Madame Bovary, «The West Side Story» – die Literatur lebt von Figuren der Leidenschaft und der tragischen Liebe. Nicht um das, was wir nicht ertragen können, sondern um das, was wir fähig sind zu ertragen, darum ging es Shakespeare.

 

Gentleman und Dandy – Auch diese zwei Archetypen des zeitlosen Mannes entstammen dem britischen Fundus. Dass Briten nicht vordrängeln, ist mehr als ein nettes Klischee. Konzept und Figur des zurückhaltend-höflichen Mannes, des gentle man, entstammen der englischen Aufklärung. Bis heute prägen die damaligen Vorstellungen von sozial akzeptablem Verhalten die unseren: Nicht exzessiv lachen, eher dezent lächeln, forderte der 4. Earl of Chesterfield in den 1730er Jahren. Vor allem aber, schrieb Lord Shaftsbury, so charmant sein, dass das Gegenüber das Gefühl bekomme, er oder sie selbst habe die gute Atmosphäre verursacht. Dass nun der britische Gentleman den EU-Klub verlässt und ihm die übrigen Mitglieder hinterherspucken, spricht vor allem gegen Letztere.

Eine Zeitlang zumindest, in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, war er der Mann aller Männer: Stilsicher und überlegen wählte er Kleider und Spazierstöcke aus, als gälte es – wie Oscar Wilde es formulierte – blau-weisses Porzellan passend zur Tapete zu platzieren. George Bryan Brummell (1778–1840), Urvater aller Dandys und des männlichen guten Geschmacks, dominierte die Londoner und von dort aus die nordeuropäische Herren-Couture der besseren Kreise bis in die Gegenwart. Eine Figur wie James Bond, der stilsichere Killer, konnte nur in Grossbritannien entstehen. Dem britischen Dandy ist es zu verdanken, dass Mannsein und Mode sich alles andere als ausschliessen

 

Frauenfinale – Kate Moss, Twiggy, Lady Di – Grossbritannien hat vielleicht nicht die schönsten, aber mit die interessantesten Frauen hervorgebracht: in sich ruhend, mit hohen Wangenknochen und nackten Beinen in Heels auch im Winter. Nach Jane Birkin hat Hermès bis heute die teuerste Tasche jeder Kollektion benannt.

Maria Stuart, Elizabeth I, Queen Victoria, Margaret Thatcher und nun auch Theresa May: Ganz selbstverständlich prägten und prägen Frauen die englische Geschichte und Machtpolitik, während im restlichen Europa die Menschen noch lange parfümierten Perückenträgern und dickbäuchigen Kanzlern hinterherliefen. Es war in Grossbritannien und den (ehemaligen) britischen Kolonien, wo die Frauen am frühesten und erfolgreichsten gleiche Rechte einforderten.

Wo beginnen? Wo aufhören? Mit der Dampfmaschine, 1712 erfunden von Thomas Newcomen und weiterentwickelt von James Watt, leitete Grossbritannien die Industrialisierung ein. Sie bildete die ökonomische und technische Grundlage für das Empire. Die Globalisierung der britischen Profite, sagt Niall Ferguson, habe zur Globalisierung der britischen Macht geführt – und zur Verbreitung des britischen Spirits aus Eleganz, Unerschütterlichkeit, freiem Denken und Geschäftssinn. Die heutige moderne Welt ist ohne den Beitrag und den Einfluss Grossbritanniens nicht denkbar – und die Briten lieferten auch den Soundtrack zur letzten grossen Gesellschaftsrevolution. Die spätere Punk-Gitarristin Viv Albertine beschreibt den Augenblick, als sie Mitte der sechziger Jahre das erste Mal «Can’t Buy Me Love» von den Beatles hörte: «Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe.» Beatles, Pink Floyd, Queen, Amy Winehouse – in der Musik ist Grossbritannien ein Empire geblieben. Thank God.

 

Quelle: Die Weltwoche Nr 12.19_21.03.2019

Wim Meeuws, Ass. member of the ABA and  ILAB
Thornton's Bookshop
(founded in Oxford in 1835)
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