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Großbritannien - Ramsgate freut sich auf den Brexit
In der südenglischen Hafenstadt hoffen sie auf Grenzkontrollen und darauf, dass ihr alter Hafen wieder gebraucht wird. Hier sagen nicht nur die Arbeitslosen: "Scheiß auf die EU". Von Cathrin Kahlweit

Trevor Shonk hat freudig sein kleines Büro über der Touristeninformation verlassen, in dem auch der Gemeindeschatz lagert. Aus Platzmangel stapeln sich in den Zimmerecken gravierte Silberpötte und Bilder in staubigen Holzrahmen. Das eigentliche Rathaus hat die Gemeinde aus Geldnot verkauft, man musste sich verkleinern. Der Bürgermeistersessel, einem kleinen Thron nicht unähnlich, ist im Besprechungszimmer verräumt. Shonk geht daher ganz gern an die Luft und schaut nach dem Rechten.

Der Ortsbürgermeister hat also kurz der Queen zugewinkt, die ihm, sehr mädchenhaft in Öl gemalt, beim Arbeiten über die Schultern schaut. Er ist im Sonnenlicht an der Marina entlanggelaufen, wo kleine Yachten und Segelschiffe liegen, hat den rumänischen Arbeitern zugewinkt, die schweigsam an einem alten Kutter herumschweißen, und Paul Cannon in seinem Blaumann begrüßt, der in einer kleinen Werft mit einem Trupp polnischer Handwerker schöne, weiße Katamarane baut. Es gibt noch Arbeit an der Marina, auch wenn es kaum Briten sind, die hier schuften. Das schmerzt Shonk.

Er hat traurig auf das alte Eishaus geschaut, tief in den Felsen hineingebaut, wo einst das Eis zur Kühlung der Fische gelagert wurde; es ist verrammelt. Und er ist bedauernd an dem Aufzug vorbeimarschiert, mit dem man vom Hafen einst direkt nach oben auf die Klippe fahren konnte. Seit Jahren ist der Aufzug nicht in Betrieb.

Also ist Shonk, sehr fit für seine 69 Jahre, im Zickzack die steile Treppe hinaufgeklettert, die auf die Klippe führt. Oben und unten - alles seine Stadt. Auf den ersten Blick pittoresk, Tagestouristen kommen immer noch, und abends fallen die Studenten aus den Sprachschulen der benachbarten Küstenorte von Kent ein, weil es in einigen Kneipen Drinks für ein Pfund gibt. Aber das soll sich ändern: zu viel Randale nachts, und zu wenig Polizei.

Jetzt suchen Shonks Augen unruhig das Meer ab. Wo ist, verdammt noch mal, das Baggerschiff? Das Meer glitzert blau hinter dem rissigen, grauen Betonfeld des Fährhafens und den unbenutzten Parkplätzen, hinter den ausgestorbenen Zufahrtsstraßen und dem toten Kreisverkehr. Vor seinem inneren Auge sieht Shonk Leben. Autos rollen auf Fährschiffe, Kräne quietschen, Arbeiter brüllen einander etwas zu. In Wirklichkeit ist da nichts, nur Leere und Stille.
Nicht mal der Schlickbagger ist heute zu sehen, der doch eiligst das Hafenbecken ausbaggern soll, damit hier bald wieder Fähren aus dem belgischen Ostende ankommen und ablegen können. Zu hoher Wellengang, offensichtlich. Nicht, dass Shonk glaubt, das Baggerschiff könnte viel ausrichten. "Im Vertrauen", sagt er, "das ist, als würde man mit einem Löffel das Becken leerschippen, wo die Hand Gottes nötig wäre." Aber Ramsgate setzt darauf, dass alles vorbereitet ist für den Tag X nach dem Brexit. Für den Tag, an dem das Leben nach Ramsgate zurückkehrt.

Wenn es nach all jenen geht, die einen vertragslosen Austritt aus der EU und das mutmaßliche Chaos in den Wochen danach als Katastrophe betrachten, dann wäre No Deal die schlechteste Variante. Für Ramsgate wäre sie eine Chance. Da ist der tote Fährhafen - er könnte wieder gebraucht werden. Und da ist Manston Airfield, ein ehemaliger Stützpunkt der Royal Navy, jetzt ein stillgelegter Provinzflughafen - er könnte als Lastwagen-Parkplatz fungieren, und langfristig könnten auch wieder Flugzeuge darauf landen. Denn wenn es keinen Deal mit der Europäischen Union gibt, wenn viele Gütertransporte zwischen der EU und Großbritannien kontrolliert werden müssen, die Häfen von Calais und Dover hoffnungslos verstopft sind und sich die Lastwagen, die Güter und Nahrungsmittel ins Land bringen, entlang der Kanalküste auf abgesperrten Autobahnabschnitten stauen, dann käme Ramsgate ins Spiel. Als Ausweichlösung.

Acht Prozent der Güter, so sieht es die Notfallplanung der Regierung vor, sollen in anderen Häfen als Dover ins Land kommen. Vor Wochen hat Whitehall die Planung für den No Deal hochgefahren, weil es so aussieht, als würde Theresa May den Austrittsvertrag, den sie mit Brüssel ausgehandelt hat, an diesem Dienstag nicht durch das Parlament kriegen.

Was danach kommt, wissen die Götter, May weiß es sicher nicht. Und im Parlament gibt es, quer durch die Parteien, ein Dutzend Ansichten darüber, wie es weitergehen soll nach der Abstimmung. Ein Stopp des Austrittsverfahrens, ein zweites Referendum, Neuwahlen - oder eben ein Austritt ohne Vertrag. Dann müsste das Land vom 30. März an mit der EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation auskommen, was hohe Zölle und eben Grenzkontrollen bedeuten würde.

Im Bezirk Thanet, in dem die 40 000-Einwohner-Stadt liegt, haben 64 Prozent für den Brexit gestimmt. Das ist weit mehr als im Landesdurchschnitt. Ein Grund sind die Fischer, die eine Mordswut auf die EU haben wegen der Fischfangquoten. Sie wollten die versprochene Kontrolle über ihre Gewässer zurückhaben und endlich fangen dürfen, was vor ihrer Küste herumschwimmt. Einerseits trägt der Fischfang nur noch weniger als ein Prozent zur britischen Wirtschaftsleistung bei, andererseits sagen die Fischer von Ramsgate, Brüssel sei daran schuld, dass so viele von ihnen pleitegegangen seien.

Andy Warson, der in einer Armeejacke und einem Camouflage-Hut reglos auf einer Bank vor dem Yachthafen hockt, hat mal sein Geld auf einem Kutter verdient. Jetzt ist er sehr dick, sehr krank, arbeitslos und sauer. "Scheiß auf die EU" ist alles, was ihm zu entlocken ist. Dass im EU-Austrittsvertrag von May die Fangquoten ausgeklammert sind und das Thema auf die lange Bank geschoben wurde, macht die Sache nicht besser. "Scheiß auf die EU", sagen daher auch zwei junge Männer, die am Kai versuchen, mit einer Angel eine Boje einzufangen, die sich losgerissen hat. Anderswo im Land mag sich die Stimmung drehen, mögen sich ehemalige Leaver angesichts der drohenden Ungewissheit besinnen und nun für Remain, für einen Verbleib in der EU sein, in Ramsgate ist alles wie gehabt. Raus ist gut. Remain ist Mist.

Wie an so vielen Küstenorten ist auch an diesem das Geld und die Schickeria vorbeigerauscht. Viele Häuser stehen seit Jahren leer, die wohlhabenden Pensionäre, die London verlassen und sich ein preiswertes Haus an der See kaufen, ziehen in attraktivere Orte, nach Hastings oder Southport. Die Einkaufsstraßen, die vom Wasser wegführen, sehen so aus wie viele High Streets im Land: blinde Fenster, Supermarktketten, Kleidermärkte, staatlich subventionierte Charities, Kaufhäuser ohne Kundschaft. Da bedeuten No Deal, die Ideen für den Hafen und das Airfield: Hoffnung.

Trevor Shonk, sehr fesch im marineblauen Sakko mit wehendem Schal, aber zu dünn angezogen für die kalte Brise, die vom Ärmelkanal heraufweht, ist seit vier Jahren Bürgermeister von Ramsgate. Und Ramsgate befindet sich derzeit, wenn man windtechnisch im Bild bleiben will, gerade im Auge eines Orkans. 2013 war das letzte Fährunternehmen spektakulär pleitegegangen; ein neues Unternehmen soll, wenn es nach der Regierung geht, im Frühjahr den Betrieb aufnehmen. Leider hat sich herausgestellt, dass die damit beauftragte Firma, Seaborne Freight, keine Erfahrung mit Fähren und auch noch keine Schiffe gechartert hat. Sie kann auch bisher keine Verträge mit den Hafenbetreibern von Ostende und Ramsgate vorlegen. Ihre Chefs haben Ärger mit früheren Geschäftspartnern und Gläubigern. Verkehrsminister Chris Grayling hat dennoch, nachdem das ganze Land über diese Nachrichten wahlweise lachte oder schimpfte, den 14-Million-Pfund-Vertrag verteidigt, den seine Beamten mit Seaborne Freight geschlossen hatten. Man habe alles genau geprüft, und Geld fließe ohnehin erst, wenn die Fähren vor Ort seien und die Firma ihren Teil des Vertrags erfülle, sagte Grayling. Was womöglich nie passieren wird. Ein bisschen ins Schwimmen kam er, als klar wurde, dass Seaborne Freight seine Geschäftsbedingungen offenbar aus den Unterlagen eines Catering-Services herauskopiert hatte.

Andererseits: Was soll man machen, wenn, wie kolportiert wird, das dubiose Start-up, das offenbar schon länger versucht hatte, einen Fuß in den Fährhafen zu kriegen, das einzige ist, das sich auf die entsprechende Ausschreibung gemeldet hatte? Die Sun betitelte ihre Glosse mit "Scared shipless", was auf "shitless" (sich vor Angst in die Hose machen) anspielt. Weder die Betroffenen in London noch in Ramsgate fanden das sehr lustig.

Steve Coombes, Drebuchschreiber, BBC-Autor und Kopf der Bürgeraktion "Ramsgate Action Group", die auf ihrer Facebook-Seite kübelweise Hohn und Spott über Grayling und Seaborne Freight ausschüttet, sagt, man könne lange und ausführlich über die Inkompetenz und die Dummheit der Beamten in London reden. Die hätten schließlich auch recherchieren können, was in Ramsgate jeder wisse: dass der stillgelegte Fährhafen, selbst wenn man viele Millionen investiere und viele Schlickbagger abstelle, zu klein und zu flach sei, und keine Alternative zu Dover bieten könne. "Viel Show, viel Camouflage, wenig Fakten: ein Wahnsinn", sagt Coombes. Dann lacht er bitter. Der Brexit treibe eben seltsame Blüten. Die Regierung müsse so tun, als tue sie etwas. Und die Bürger müssten so tun, als glaubten sie, die Regierung sei kompetent und vorbereitet.
Egal, kontert Trevor Shonk betont optimistisch, während er sein iPad zückt und das hundertste Foto vom Hafen macht; viele tausend Fotos habe er schon von den lokalen Sehenswürdigkeiten auf dem Gerät gespeichert, sagt er stolz, während sein Schal wie eine Fahne im Wind flattert. Er ist kein Übelnehmer, gilt allerdings auch in der Community nicht gerade als Überflieger. Shonk habe einen Zwillingsbruder, lästert Steve Coombes von der Ramsgate Action Group freundschaftlich, und in der Stadt werde gern gewitzelt, beide seien nette Menschen, müssten sich aber leider zu zweit ein Gehirn teilen.

Shonk hört über so etwas hinweg, er will positiv bleiben, jetzt, da die Welt auf Ramsgate schaut, immer positiv bleiben, wenn so viele Miesepeter und Angstmacher unterwegs sind. "Ist es nicht wunderbar, dass sich hier etwas tut?", fragt der 69-Jährige, der früher Verkäufer gewesen war, bis der Laden zumachte. Er ist auch kein Aufgeber. Stattdessen hat er gegen Geld Gartenarbeiten erledigt, bis die Aufträge ausblieben. Hat mit seinem Lieferwagen Sachen ausgefahren, bis auch diese Aufträge ausblieben. Schließlich ist er in die Politik gegangen. Zu Ukip, der EU-Austrittspartei.

Der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage, Europa-Abgeordneter und Europa-Feind, eigentlicher Erfinder und Motor eines Brexit-Referendums, lange bevor Ex-Premier David Cameron das Land damit ins Chaos stürzte - er war lange Zeit Shonks großes Idol. Mittlerweile ist Farages Lebensprojekt, der Austritt aus der verhassten EU, beschlossene Sache, die Partei hat ihre Existenzberechtigung verloren, Farage geistert seither als Gespenst durch die Politik, unentwegt mit seiner Rückkehr drohend, ohne dass er damit noch jemandem Angst machen würde. In Ramsgate, Wahlkreis South Thanet, haben sie lange auf ihn gesetzt: Der Ort war bis 2017 die einzige Kommune in Großbritannien, in der die rechtspopulistische "Unabhängigkeitspartei" vorübergehend die Mehrheit im Stadtrat hatte. Knapp 40 Prozent wählten zeitweilig die Truppe von Oberpopulist Farage.

Der wollte das Momentum nutzen und trat bei den Parlamentswahlen 2015, noch vor dem Brexit-Referendum, selbst in South Thanet an, unterlag aber knapp dem Tory-Mann Craig Mackinlay. Auch der war einst ein Ukip-Mann gewesen. Ach ja: Gerade vergangene Woche ist Mackinlay nach einem Prozess wegen Veruntreuung von Geld aus dem Wahlkampf gegen Farage freigesprochen, seine Mitarbeiterin allerdings auf Bewährung verurteilt worden. Gut ist die Stimmung nicht in der ehemaligen Ukip-Hochburg.

Der Gemeinderat überzieht sich seit Längerem gegenseitig mit Klagen und Korruptionsvorwürfen, und fast immer geht es um das große Geld, das nicht nach Ramsgate kommen will, um gescheiterte Investitionsvorhaben und falsche Versprechen. Shonk hat Farage bewundert. Aber vor anderthalb Jahren ist er, wie knapp die Hälfte seiner Fraktion im Gemeinderat, bei Ukip ausgetreten, nennt sich jetzt unabhängig. Farage hatte Arbeitsplätze und eine Wiederbelebung des alten Airports versprochen. Ein Drehkreuz in der Provinz, eine Art Flughafen Frankfurt-Hahn, sollte aus dem Manston Flugfeld werden. Cargofirmen und Charterfluggesellschaften wollte Farage ansiedeln. Nichts ist daraus geworden. Gerade erst hat die Anhörung der Planungskommission begonnen, weil eine Firma dort Wohnungen und Büros bauen will, während andere immer noch von einem neuen Flughafen träumen. Farage sei ein guter Mann, sagt Shonk, aber er habe nicht geliefert. Und die Politik müsse liefern.

Manchmal hat der Bürgermeister Mühe, positiv zu bleiben. Denn auch das ungenutzte Flugfeld hat in den vergangenen Tagen negative Schlagzeilen im ganzen Land, ach was, in der ganzen Welt gemacht - so wie der Fährhafen und Seaborne Freight, das seltsame Fährunternehmen mit seinem seltsamen Geschäftsgebaren. Und auch hier spielte das Ministerium von Verkehrsminister Chris Grayling eine unglückliche Rolle: Um das Verkehrschaos zu managen, das nach einem No Deal rund um Dover ausbrechen könnte, hatte London eine Art Probelauf für den erwarteten Megastau angesetzt. Hunderte Lastwagen sollten sich auf der Betonpiste des Flughafens einfinden und im Morgenverkehr über die Straßen nach Dover rollen. Genau 89 Trucker kamen, die Aktion wurde eine Pleite, selbst die Lkw-Fahrer sprachen von Zeitverschwendung, und der Guardian schrieb: "Failing Grayling" - nicht einmal einen echten Stau könne der "Versager Grayling" organisieren.

Es gibt eine Menge Menschen in Ramsgate, die das ganze Theater um die No-Deal-Planung abträglich und anstrengend finden. Sie befürchten, dass es am Ende die Menschen in der Kleinstadt sein werden, die den Preis für die viele negative Aufmerksamkeit zahlen, die sie derzeit kriegen. John Walker zum Beispiel ist Mitglied der Ramsgate Society, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Städtchen aus eigener Kraft wieder zum Blühen zu bringen. Klar, sagt er, müsse die Regierung aktiv werden, "aber man fragt sich, ob die wissen, was sie tun."

Der kleine Fährhafen, sagt Walker, werde immer nur eine unbedeutende Rolle spielen können als Ersatz für Dover, und der Planungsprozess für das Flugfeld sei, ganz vielleicht, in zehn Jahren beendet. "Wir alle wollen diesen Ort lebenswerter machen. Jetzt warten alle auf Hilfe und Geld von außen. Und was, wenn der No Deal nicht kommt?" Walker ist Remainer, er hofft darauf. Wider besseres Wissen.

Trevor Shonk ist auf seinem Rundgang derweil wieder am Königlichen Yachthafen angekommen. Eine französische Zeitungskorrespondentin ist ihm über den Weg gelaufen, mehrere internationale Fernsehsender haben sich angekündigt. Shonk ist in seinem Element, er will Ramsgate und seine Möglichkeiten zeigen. Er macht Selfies mit der Presse und lädt zum Kaffee ein. Seaborne Freight? Das wird ganz groß, sagt er, alles wird gut. "Was ich nicht haben will in Ramsgate, das sind die, die immer gegen alles sind."

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