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Zittern an der inneririschen Grenze

Im nordirischen Belleek hofft man auf einen Brexit-Kompromiss, so dass alles beim Alten bleibt.
Markus M. Haefliger, Belleek 16.10.2018

In Fermanagh halten die Bürger nicht viel von den englischen Tories. Der Landkreis im Westen Nordirlands rebellierte früher gegen die Briten, und noch immer wählt er eine Vertreterin der irisch-nationalistischen Sinn Fein ins Parlament in London – eine Proteststimme, denn die Partei nimmt ihre Sitze im Unterhaus nie ein. Doch nun halten die Einwohner des Grenzstädtchens Belleek Theresa May die Daumen. Sie hoffen, dass die Premierministerin bei den Brexit-Verhandlungen einen Kompromiss erreicht und das britische Parlament einem Abkommen mit der EU anschliessend beipflichtet.
«Wenn May den Deal bekommt, wäre das gut», sagt Kevin McGovern, der Inhaber einer Metzgerei in Belleek, «auch wenn Arlene Foster der Dampf zu den Ohren herauskommt.» Foster ist die Anführerin der Democratic Unionist Party (DUP), glühende Verfechterin des Bundes Nordirlands mit dem britischen Mutterland. Von den zehn Unterhausabgeordneten der Partei hängt Mays Regierungsmehrheit ab. Die DUP lehnt ein Brexit-Abkommen ab, das Nordirland einen Sonderstatus im Königreich verleihen und gewisse Warenkontrollen zwischen der britischen und der irischen Insel nötig machen würde, egal, wie beschränkt diese ausfallen.
McGoverns Metzgerei liegt in der einzigen Ladenstrasse Belleeks, einem Ort mit tausend Seelen. Beim Pub am Strassenende geht es um die Ecke und 50 Meter bis zur Brücke über den Erne-Fluss, dahinter liegt Irland, «der Süden», wie McGovern es nennt. Belleek ist dreifach von der Grenze umgeben; von fünf Strassen, die aus der Ortschaft hinausführen, gehen vier nach Irland. Den Unterschied merkt man kaum, nur eine Änderung im Strassenbelag verrät, wo man sich befindet, und die Strassenschilder geben einen Hinweis.

Die örtliche Tankstelle liegt in Irland. In der Metzgerei sagt ein Schild, dass das Fleisch von Bauernhöfen in Irland und Nordirland stammt und in Schlachthöfen beidseits der Grenze verarbeitet wird. Für die Bauern, sagt McGovern, wäre es schlimm, würden Grenzkontrollen oder gar Zölle erhoben. Rinder- und Schafrassen aus Irland erzielen bessere Erträge und werden von dortigen Züchtern bezogen, umgekehrt verarbeiten irische Schlachthöfe die Hälfte an nordirischen Lämmern, bevor das Fleisch exportiert wird, der Grossteil davon in die EU. Die Bauern verkaufen ebenfalls einen Drittel der Milchproduktion an irische Molkereien. Möglich ist dies nur dank den gemeinsamen Normen der EU für die Nahrungsmittelverarbeitung.

In der Metzgerei McGovern gibt ein Schild an, woher der Metzger das Fleisch bezieht, nämlich von Bauernhöfen in Irland und Nordirland. (Bild: Markus Haefliger / NZZ)
«We all don't want any change», es soll sich nichts ändern, sagt Fergus Cleary, Chefdesigner der Porzellanfabrik Belleek Pottery, die neben der Brücke auf nordirischem Gebiet liegt. Der Fabrikladen des Betriebs erfreut sich eines regen Zustroms amerikanischer Touristen. Dass die Autocars den Abstecher von Donegal noch machten, wenn sich die Busse an der Brücke stauen würden, bezweifelt Cleary.

Aber käme es je so weit? Personenkontrollen lehnen alle ab, auch die hartgesottensten Brexit-Anhänger. Cleary misstraut den Beteuerungen. Eine harte Grenze sei eine harte Grenze, man werde sie nicht wegwünschen können. «Es geht weniger um den Handel als um Ängste», sagt er. Die Einwohner Belleeks wüssten, was eine Grenze sei, und wollten sie nie mehr wiederhaben. «Das [nordirische] Friedensabkommen hat uns Zeit geschenkt, unseren Zwist zu vergessen, eine harte Grenze macht die Hoffnungen zunichte», sagt er.

Hinter der Brücke liegt auf irischer Seite ein Hügel mit einer Befestigung aus der Zeit der Napoleonischen Kriege. Die Engländer befürchteten damals, französische Einheiten würden in Fermanagh landen. Als die Anlage stand, war der Krieg freilich schon zu Ende. Aber viel später, während der Unruhen in den 1970er Jahren, benutzte die Irish Republican Army (IRA) die Ruine, um auf britische Sicherheitskräfte zu schiessen. Soldaten seien über den Hof gerannt, um in Deckung zu gehen, sagt Cleary. In Belleek gingen auch Bomben hoch. Erst als die irische Armee die Scharfschützen vertrieb und den Hügel besetzte, kehrte eine gewisse Ruhe ein.

Cleary erzählt vom Grossvater, der erlebte, wie Belleek 1921 bei der Trennung Irlands eine Landesgrenze vor die Tür gesetzt bekam. Die Briten hatten mithilfe von Grafschaftsgrenzen, die zuvor nie jemand beachtet hatte, ein möglichst grosses Gebiet ausgesondert, das gesamthaft eine protestantische Bevölkerungsmehrheit ergab. So kam Nordirland zustande. In Belleek herrschte Bestürzung, nur die Schmuggler entdeckten bald eine neue Einkommensquelle.

In Belleek hat kaum jemand je gewünscht, Teil des Königreichs zu bleiben. 80 Prozent der Bewohner sind katholisch, die Minderheit geht in die anglikanische Church of Ireland, nicht in die presbyterianische Kirche wie anderswo in der Provinz. Der Personenverkehr wurde 1925 liberalisiert, der Handel in den 1960er Jahren und endgültig 1973 beim Eintritt beider Länder in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Wegen des nordirischen Bürgerkriegs blieb die Grenze 25 Jahre darüber hinaus als Sicherheitsgrenze bestehen.

Vor Belleek wurden Sperren errichtet, eine der britischen Armee an der Strasse, die hinter der Brücke zurück nach Nordirland führt, eine der irischen Garda (Polizei) an der Küstenstrasse nach Donegal. Die Bewohner haben nur Spott übrig für die Behauptung von Londoner Brexit-Politikern, für Grenzkontrollen werde man keine Installationen benötigen, allenfalls Kameras. «Was für ein dummes Argument», sagt Cleary, «eine Kamera kann einfacher entfernt werden als eine Sperre.» Er befürchtet, dass Konflikte rasch eskalieren würden.

Der Farmer John Sheridan wirtschaftet in der weiteren Umgebung zwischen Flüssen und Seen entlang der Grenze. «Kein englischer Politiker machte sich Gedanken über unser Problem mit dem Brexit», sagt er. Jetzt müssten es alle tun, denn an der Grenze hänge der Brexit. Sheridan besitzt 480 Hektaren Land, 130 Kühe und 600 Schafe; er ist ein Grossbauer. Für Getreideanbau taugt das Land im Westen der Insel nicht, es regnet zu viel. Drei Viertel der nutzbaren Fläche Nordirlands gelten als schlecht im Sinne der Agrarordnung.

Wie die meisten Landwirte der Provinz befürchtet Sheridan den Wegfall der Agrarsubventionen aus Brüssel. London will die Rechnung übernehmen, aber nur bis 2027. Ein leeres Versprechen, glaubt Sheridan. Bei einem harten Brexit drohen zudem Zolltarife für die Schaffleischexporte in die EU. «Sie fressen die Hälfte unserer Gewinnmarge weg.»

Sheridan hat einen Hang zu bildlicher Sprache. «Die Geologie kennt keine Grenze», sagt er. Flüsse und Bäche entsprängen in Nordirland und mündeten in Irland ins Meer. «Dazwischen kommen sie bei mir durch», sagt er. Der Tory-Politiker Jacob Rees-Mogg hat ihn schon besucht, mit Kamera-Crews im Schlepptau. «Ich bot ihm an, ihn zu beherbergen, drei Wochen lang, dann werde er die Meinung ändern.» Aber der Anführer der harten Brexit-Anhänger hatte keine Zeit.

Sheridan begrüsste Mays Bereitschaft, für Nordirland eine befristete Sonderregelung im EU-Binnenmarkt zuzulassen. Dass die DUP wegen ein paar Kontrollen zwischen Grossbritannien und Nordirland auf die Barrikaden steige, sei lächerlich. «Wir haben schon jetzt unterschiedliche Regeln», sagt er und verweist auf Bürgerrechte wie die Schwulenehe, die in Nordirland nicht gelten. Sogar die Whisky-Masse [Swiss spelling for ‘Maße'] in den Pubs seien diesseits und jenseits der Irischen See verschieden. «Hat sich je jemand aufgeregt deshalb?», fragt Sheridan.
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[Background article at the bottom of the page:]
Seit bald einem Jahr versucht Theresa May die Quadratur des Zirkels. Laut ihrem Brexit-Plan soll Grossbritannien erstens die Zollunion und den Binnenmarkt der EU verlassen. Zweitens einigte sich die britische Premierministerin letzten Dezember mit der EU darauf, dass die innerirische Grenze offen und unsichtbar bleiben soll. Die beiden Versprechen sind prinzipiell nicht vereinbar, weil unterschiedliche Zolltarife oder technische Normen Grenzkontrollen notwendig machen. Die britische Seite behauptet, in Zukunft würden moderne Technologien das Problem lösen. Dublin, Brüssel und die nebenstehend genannten Nordiren in Belleek verlangen für den Fall, dass daraus nichts wird, eine Rückfallposition («backstop»).
In den letzten Wochen kamen sich beide Seiten näher, aber nicht nahe genug, wie May am Montagnachmittag vor dem Unterhaus erklärte. Brüssel habe den britischen Vorschlag aufgenommen, eine vorübergehende Zollunion zwischen dem ganzen Vereinigten Königreich und der EU zu vereinbaren. Dies würde die erforderlichen Kontrollen an der inneririschen Grenze deutlich verringern. Laut May kann EU-Chefunterhändler Barnier die Regelung jedoch nicht rechtzeitig vor Abschluss des Austrittsvertrags zusichern; die EU verlange deshalb eine zusätzliche Garantie, eine Art «backstop» für den «backstop».
Offenbar hatte man sich auf technischer Ebene bereits geeinigt. Aber während die Notlösung für Brüssel unbeschränkt gelten muss – sie ist sonst keine –, will London sie eigenmächtig aufkündigen können. May nannte Ende 2021 als mögliche Frist, liess sich im Unterhaus jedoch nicht auf ein Datum festnageln – vielleicht ein Hinweis, dass sie in der Endrunde der Verhandlungen nachgeben könnte.
Brexit-Hardliner stellten May im Parlament gehässig Fragen, ein Zeichen, wie schwer sie es haben dürfte, ein Abkommen in der genannten Form durchs Unterhaus zu bringen. Auch die nordirischen Unionisten von der DUP sind zornig. Ihnen ist weniger die Zollunion ein Dorn im Auge als der – ebenfalls mehr oder weniger «temporäre» – Verbleib Nordirlands im EU-Binnenmarkt für Güter, ein weiteres Kompromiss-Element. May ging diesbezüglichen Fragen mit der Beteuerung aus dem Weg, sie werde keine «Zollgrenze» zwischen Grossbritannien und Nordirland dulden. Davon spricht auch gar niemand. May verschwieg, dass sie in regulatorische Kontrollen von technischen oder hygienischen Normen zwischen der britischen und der irischen Insel einwilligen könnte. (mhf.)

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