Print

Print


Ein Artikel aus der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 19.05.2018 http://sz.de/1.3985827

Die Seite Drei, 19.05.2018 Literatur

Eine Zumutung ============= Von Hilmar Klute

Auf einem dieser Balkone muss die Sängerin gestanden haben. Die farbigen Brüstungen, die kleine Grünanlage vor dem Haus - man kennt die Gegend schon aus Monika Marons neuem Roman -, hier haben sich die Anwohner der sonst so stillen Charlottenburger Straße versammelt, um gegen das Geheule der durchgeknallten Frau anzubrüllen, die Tag und Nacht ihre Arien in die Nachbarschaft sendet und sogar ein kleines Mädchen so wüst beschimpft, dass die Mutter es tröstend in den Arm nehmen muss. Es ist etwas in die Straße, ins Land, in die Köpfe eingezogen, etwas, das die alte Ordnung zerhauen hat.

In dem schönen, hell gestrichenen Haus gegenüber wohnt die Erzählerin. Sie schreibt an einem Essay über den Dreißigjährigen Krieg, als der Sommer des unaufhörlichen Gesangs ausbricht. Tag und Nacht immer dieselben falschen Töne aus der Kehle der untalentierten, dafür umso lauteren Soubrette. Der Krieg, der Gesang, die vielen Fremden, die plötzlich auftauchen, junge Männer vor allem; eine Frau wird vergewaltigt, die Krähen kommen aus den Bäumen und machen ein finsteres Deutungsangebot. Wo entlang geht es ins Märchen? Und wo ist der Weg vom Märchen zurück in die Wirklichkeit von 2018?

Ein altes Berliner Bürgerhaus mit großzügigen Steinbalkonen und einer dezenten Fachwerkanmutung - in den Zwanzigerjahren soll hier eine der vielen Freundinnen von Kurt Tucholsky gewohnt haben. Im obersten Stock steht die Erzählerin Monika Maron ein bisschen zögernd in der Tür und lässt erst ihren alten Hund Momo prüfen, wer da kommt. Sie lebt seit zwanzig Jahren hier. Vom Balkon aus kann man direkt auf das Haus der Sängerin schauen, deren Schicksal im Roman dramatischer ausfällt als in der Wirklichkeit. Monika Maron setzt sich und beginnt zu erzählen.

Sie hat sich an den Rand des schwarzen Ledersofas gesetzt, ihr dunkler Hosenanzug hat am Halsausschnitt eine weiße Borte - äußere Eleganz gehört ja bei deutschen Schriftstellern, Mann wie Frau, nicht unbedingt zum Portfolio; bei Monika Maron verlängert sie sich gewissermaßen in die Fingerspitzen, weil sie die Zigarette beim Reden nicht nervös hin- und herfackeln lässt, sondern hübsch aufrecht hält. Ihren leichten Ostberliner Ton lässt sie immer dann anklingen, wenn etwas besonders absurd erscheint. Zum Beispiel hier, die Irre: Einen ganzen schönen Arbeitssommer habe sie ihr zersungen, und Maron macht jetzt den Stimmverlauf der Soubrette nach, der ein bisschen klingt wie Elisabeth Volkmann als Jolanthe in "Klimbim". Irgendwann wurde die Frau also abgeholt und unter Aufsicht gestellt. Es endete Gott sei Dank nicht so elend wie im Buch.

Buchhändler nahmen ihr Werk aus dem Sortiment. Oder sie bestellten es erst gar nicht
-------------------------------------------------------------------------------

Darüber allein hätte man ein schönes Literaturgespräch mit Monika Maron führen können - über die Gewalt des täglichen Irrsinns, über die Empörung der liberalen Nachbarschaft. Und natürlich über die Krähen, die plötzlich in die Wohnung tapsen, und eine von ihnen, Munin, fängt sogar irgendwann an, mit der Erzählerin zu sprechen. Mit richtigen Worten, nicht bloß mit dem fragenden Blick von Momo, der abwechselnd zu ihr und zum Gast tippelt, um die jeweilige Qualität der Streicheltechniken zu vergleichen.

Ein derart dunkel gewebtes und zugleich sarkastisch komisches Stück Literatur wie Monika Marons Roman "Munin oder Chaos im Kopf" gab es lange nicht zu lesen. Es ist eine virtuose Erzählung, sie handelt von den Ängsten, die uns spätmoderne Durchblicker heute überschatten. Mit solch kruden Ideen machen die Rechten heute Politik. Die einbeinige Krähe Munin erklärt der Erzählerin, wie wenig der Mensch vom Menschen versteht. Monika Maron hat über viele Monate hinweg versucht, die Krähen zu verstehen. Weil sie eine prophetische, unbedingt tierische Referenzfigur für ihr Buch benötigte. Sie hat ornithologische Literatur gelesen und die Vögel von der Straße mit Hundefutter auf ihren Balkon gelockt. Eine Nachbarin im Haus beschwerte sich darüber. "Ich habe ihr gesagt, dass ich das aus Recherchegründen machen muss." Wie lange das denn dauern würde, fragte die Nachbarin. "Das weiß ich nicht."

So könnte man Marons Roman ganz gut als drohend-groteske Parabel auf die uns entgleitende Vernunft lesen.

Das Dumme ist, dass Monika Maron ihr Buch von Teilen der kritischen Öffentlichkeit postwendend zurückgeschickt bekam. Mit eben dem Sperrvermerk: rechts. Es stünden in dem Roman Sätze, die von Politikern der AfD stammen könnten, schrieben Literaturkritiker. Es ist die Rede von "Millionen von jungen Männern, die man zuvor ins Land gelassen hatte", ein mutmaßlicher Vergewaltiger wird "von der Frau als südländischer Typ beschrieben", und ein vom Toleranzgebaren der Nachbarn enttäuschter Taxifahrer hängt aus seinem Fenster die Deutschlandfahne. Buchhändler nahmen das Werk aus dem Sortiment oder bestellten es erst gar nicht. Wenn Monika Maron Interviews gab, wurde spätestens nach der dritten Frage ihre Haltung zur Einwanderung abgetastet. Monika Maron gilt als politisch auffällige Autorin im Dunstkreis der neuen rechten Bewegungen. Und ihren Roman lesen viele als literarischen Beleg für ihre fremdenfeindliche reaktionäre Weltsicht.

Um es klar zu kriegen: All dies kommt nicht von ungefähr. Monika Maron hat in der Vergangenheit in Aufsätzen und Wortmeldungen die deutsche Flüchtlingspolitik scharf kritisiert, vom "kollektivem Selbstmord" der Deutschen geschrieben und den Pegida-Demonstranten in Dresden zumindest eine Vorform von Verständnis entgegengebracht. In der FAZ schrieb sie, "dass ein nicht absehbarer Flüchtlingsstrom Deutschland nicht ökonomisch, aber in seinem politischen und kulturellen Fundament gefährdet". Im selben Satz weist sie sich allerdings klar als AfD-Gegnerin und Pegida-Verweigerin aus.

Vor einigen Wochen gab Monika Maron dem Moderator der ZDF-Kultursendung "Aspekte" ein Interview. Während sie sprach, wurde hinter ihr der Wortlaut der sogenannten Gemeinsamen Erklärung 2018 eingeblendet, die das "wachsende Befremden" von inzwischen 150 000 Unterzeichnern ausdrücken soll. Darin heißt es, Deutschland werde "durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt". Der Text schließt mit der Solidaritätsbekundung für flüchtlingsfeindliche Demonstranten.

In ihren Romanen rollt immer alles absolut zwangsläufig auf die Katastrophe zu
------------------------------------------------------------------------------

Nur: Monika Marons Name steht gar nicht unter dieser Erklärung. "Trotzdem wird das eingeblendet", sagt sie. Für ihre Kritiker hat sie halt gefühlt unterschrieben. "Ich habe das natürlich befürchtet", sagt Monika Maron, "weil ich die Reflexe ja inzwischen kenne." Aber ihre Kritiker wissen oder glauben umgekehrt zu wissen, wie sie zumindest seit einer Weile tickt. Der Rezensent Rainer Moritz schreibt über den Roman, "dass manche Ansichten vor allem ein Ventil sind für die angestauten Meinungen der Autorin Monika Maron."

Es ist ein bisschen eigentümlich: Eine Literaturkritik, die sonst so viel auf die Unterscheidung von Text und Autor gibt, legt in diesem Fall ihre Instrumente aus der Hand und beschäftigt sich halb küchenpsychologisch, halb anklagend mit der Gesinnung der Autorin. "Ich weiß gar nicht, was die haben", sagt Monika Maron. "Ich finde meine Texte absolut vernünftig. Ich hetze gegen niemanden, auch nicht gegen Muslime. Ich sage nur, der Islam ist so, wie er ist." Gut, und wie ist der Islam so?

Wenn man Monika Maron zuhört, gewinnt man den Eindruck, eine Art spätmoderner Kassandra vor sich zu haben, die einen schlimmen Film von unablässig das Land überströmenden Menschenzügen über die weiße Wand laufen sieht: "Die gehen in die Ballungsgebiete, dann kriegen sie das kommunale Wahlrecht. Schließlich wird sogar darum gekämpft, dass Leute, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, mitwählen dürfen, dann haben wir da in absehbarer Zeit muslimische Mehrheiten. Was das bedeuten kann, sehen wir in manchen Stadtteilen Londons."

Was, glaubt sie, sei denn der Grund dafür, dass viele Menschen aus ihren Heimatländern, in denen Krieg herrscht, nach Deutschland flüchten? Ob sie nicht anerkenne, dass es gelungene Beispiele für Integration gebe? Und ob sie die Vorstellung, die westlichen Gesellschaften seien nicht so weit davon entfernt, sich einem dunklen islamischen Regime zu unterwerfen, nicht für, sagen wir: allzu pessimistisch halte?

"Das ist auch eine Frage des Naturells", sagt Maron. "Der eine ist Optimist, der andere Pessimist. Aber am Ende scheiden sich plötzlich die Geister, dann hält es wenigstens einer von beiden nicht mehr aus."

"Mich deprimiert das sehr"
==========================

Es sind schwere Sprachbalken, die Monika Maron in die Debatte schleppt - Überstehen, Unterwerfung, Gute Nacht. Wenn man einen Stoff finden möchte, welcher die sprechende mit der schreibenden Monika Maron vernäht, dann ist es vielleicht eine besondere Art von Finsternis. In ihren Romanen rollt immer alles mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit auf die Katastrophe zu - der Tod ist der verlässliche Schicksalmacher in "Animal Triste" und in "Stille Zeile sechs", zwei von Monika Marons wichtigen Romanen. Auch in "Munin oder Chaos im Kopf" liegt ein schlachtfeldgroßer Schatten drohenden Unheils auf der bürgerlichen Szenerie: das Gefühl, in einer Vorkriegsepoche zu leben, die diffuse Angst, von Fremden bedroht zu sein, die Befürchtung, gewohnte Strukturen bald nicht mehr vorzufinden. "Ja, ich habe Angst vor dem reaktionären, frauenfeindlichen, nach weltlicher Macht strebenden und in unseren Alltag drängenden Islam", schrieb Monika Maron vor knapp einem Jahr in der NZZ. "Aber warum ist das krank? Und warum ist das rechts?"

Man muss Marons dystopische Befunde nicht teilen. Man kann in der Diskussion über Asylbewerber und neue muslimische Teilgesellschaften auch Argumente und Belege für gelungene Integration finden.

Man muss aber auch nicht so tun, als habe man es bei Marons Ansichten mit irren Kopfgeburten einer nach ganz rechts gerückten altlinken Krähenbeschwörerin zu tun. Man könnte stattdessen die Geschichte der Schriftstellerin Monika Maron erzählen, die auch eine Geschichte des Glaubens an politische Ideale ist, sowie der schmerzhaften Abkehr davon. Die Geschichte einer sogenannten Ost-Intellektuellen, den Begriff gab es mal, er wurde seinerzeit, so sieht es jedenfalls Maron, als Debatten-Spaltpilz missbraucht. "Wer nicht dumpf rechts oder SED-Anhänger war, wurde dem Westen zugeschlagen", sagt Maron. "In der öffentlichen Diskussion hat das ein schiefes Bild von den Ostdeutschen ergeben. Die siebzig Prozent, die froh über die Einheit und ihre neue Freiheit waren, verschwanden unter den zwanzig oder dreißig Prozent PDS-Wählern. Wir wurden in der Diskussion entweder dem Westen oder dem Osten zugeschlagen", sagt sie.

Anfang der Neunzigerjahre hatte es Monika Maron allerdings selbst in einem Aufsatz gegen die jammernden Ossis ziemlich krachen lassen: "Zonophobie" heiß der Text, ein Satz daraus geht so: "Ich bin an ihrer Dumpfheit und Duldsamkeit, an ihrer Duckmäuserei und ihrem feigen Ordnungssinn oft verzweifelt." Es ist ihr heute etwas unangenehm, an den Text von 1992 erinnert zu werden: "Ich hatte bis dahin immer verständnisvoll über Ossis geschrieben, aber dann kam mir die Galle hoch."

Ende der Siebzigerjahre war sie eine Weile für die Stasi tätig. Dann wurde sie selbst bespitzelt
-------------------------------------------------------------------------------

Zwei Jahrzehnte später war Maron eine der ersten Intellektuellen, die sich die Pegida-Demonstrationen angesehen haben. Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Schriftsteller Peter Schneider, war sie im Herbst 2014 nach Dresden gereist - beide wollten rauskriegen, was eine Reihe von Ostdeutschen dazu bewegt, sich jeden Montagabend vor dem Reiterdenkmal zu versammeln und gegen die angebliche islamische Bedrohung zu protestieren.

Damals, sagt Maron, seien die normalen Bürger auf der Straße gewesen, nur wenige organisierte Rechtsradikale. "Ich habe die nie verachten können." Sie meint jene Leute aus der früheren Arbeiterklasse, mit denen sie als junge Journalistin in der DDR zu tun hatte. Sechs Jahre lang zog sie durch Betriebe und Fabriken für ihre Industriereportagen, die vor allem in der Wochenpost erschienen, einer der meistgelesenen Zeitungen in der DDR. Ihr erster Roman "Flugasche" erzählt von dieser Arbeit, von den Zerstörungen, die das Werktätigen-Pathos in den Menschen und in der Natur anrichtet. Das Buch durfte in der DDR nicht erscheinen. Monika Maron, die Ende der Siebzigerjahre eine Weile als Inoffizielle Mitarbeiterin für die Stasi tätig war, wurde schließlich selbst bespitzelt. Erst Jahre später kam der Roman beim Verlag S. Fischer in Frankfurt raus; ein Jahr vor der Wende reiste Monika Maron nach West-Berlin aus. In den Nachwendejahren war sie eine der kraftvollen und kritischen Stimmen gegen die Einheitseuphorie. "Irgendwann waren wir dann nur noch die Störenfriede im West-Ost-Konflikt", sagt Monika Maron in ihrem Charlottenburger Wohnzimmer. "Wir waren plötzlich nicht mehr zuständig, enteignet am eigenen Konflikt. Alles, was eigentlich ein alter Ost-Ost-Konflikt war, wurde zum Ost-West-Konflikt."

Eines Tages, sagt Monika Maron, habe sie die Islamkritikerin Necla Kelek im Fernsehen gesehen. "Da dachte ich, eigentlich kämpft sie für uns, und eigentlich wird sie ihres Themas genauso enteignet wie die Ostdeutschen. Und auch bei den Muslimen hat man auf die falschen Verbündeten gesetzt, nicht auf die aufgeklärten, säkularen Muslime, sondern auf die reaktionären Verbände." Necla Kelek bezeichnet den Islam als Unterdrückungskultur, warnt vor Parallelgesellschaften in traditionsverhafteten Familien und antidemokratischen Bestrebungen in Moscheen und Gebetsräumen. Maron und Kelek unterhielten mehrere Jahre lang einen Salon, in dem sie gemeinsam mit Muslimen, aber auch mit Aleviten und Armeniern über den Islam diskutiert haben. "Alles, was ich über den Islam weiß", sagt Monika Maron, "habe ich also von denen."

"Sterben lassen, was nicht leben kann", sagt die Krähe im Buch. Sagt es damit auch die Autorin?
-------------------------------------------------------------------------------

Dann kommt sie auf die Sache mit dem Pfefferspray. Das hat sie sich gekauft, weil sich die Gegend, in der sie wohnt, in den letzten Monaten stark gewandelt habe. "Die Lebensweisen haben sich verändert", sagt sie und erzählt, wie sie eines Abends mit dem Hund rausging und am Spielplatz beim Bayerischen Platz vorbeikam. Ein breiter Mann stand vor einer schmalen Frau, "ein dunkelhäutiger Mensch". "Der hat die nicht vorbeigelassen, und als sie mich sah, sagte sie zu mir sehr gefasst, können Sie mir helfen." Monika Maron zog das Spray und sagte: "Gehen Sie hier weg." So erzählt sie es.

Man könnte das Zivilcourage nennen. Für Monika Maron ist das eher ein Modell für künftige zivilisatorische Katastrophen: "Da kommen diese gewalterprobten jungen Männer und treffen hier auf die zur Friedfertigkeit erzogenen deutschen Männer, die ihnen offenbar hoffnungslos unterlegen sind."

Man muss vielleicht doch noch einmal Peter Schneider konsultieren, der Monika Maron seit Jahrzehnten kennt und selbst zu den Islamkritikern gezählt wird. Anders als Monika Maron wird Schneider in der öffentlichen Debatte kein Platz in der Rechtsdenkerloge zugewiesen. Schneider glaubt, dass Monika Marons Furcht vor dem Islam damit zusammenhängt, dass sie, wie viele ihrer Landsleute aus dem Osten, kaum Erfahrung mit Fremden gemacht habe. Es ist schon wahr: Ein Gespräch mit Monika Maron über Migration ist ein bisschen wie der Versuch, mit Michel Houellebecq das Fastenbrechen zu feiern. Es führt immer dorthin, wo die Argumente sich gar nicht wirklich begegnen können. "Wenn es nach mir ginge, hätte ich nur Frauen und Kinder reingelassen", sagt sie zum Beispiel. "Aber es ist zu befürchten, dass der Familiennachzug nicht für verbesserte Integration sorgt, sondern eher für Parallelgesellschaften." Woher sie das weiß, bleibt so rätselhaft wie überhaupt die Zukunft von Gesellschaften, die einerseits Migration brauchen, diese andererseits zweifellos regulieren müssen.

Auf der Balkonstange ist jetzt tatsächlich eine Krähe gelandet, die ruft das Gespräch zur Literatur zurück. Es ist nämlich etwas passiert in Monika Marons spätem Schriftstellerleben. "Ich hätte nicht geglaubt, dass ein Buch durch die stereotype Behauptung, eine Autorin hätte sich in die rechte Ecke verirrt, so unter Verdacht geraten kann." Die Einladungen zu Lesungen sind spärlich, lange Freundschaften sind heruntergekühlt und ein paar Buchhändler boykottieren den Roman schlichtweg. "Mich deprimiert das sehr, weil ich eigentlich glaube, dass es in dem Buch um etwas geht, das alle bewegt und über das im Augenblick alle reden. Aber wer weiß, offenbar wollen überhaupt nicht mehr so viele Menschen Bücher lesen, was nicht weniger deprimierend wäre." In Wahrheit redeten alle nur über einzelne Sätze aus dem Buch. Und immer wieder wird dieser eine Satz zitiert, der dunkel und böse klingt, eben aus dem Schnabel der Krähe gesprochen: "Sterben lassen, was nicht leben kann." Kritiker haben Monika Maron unterstellt, sie habe indirekt den Flüchtlingen den Tod im Mittelmeer gegönnt. Im Buch steht der Satz als freies Bezugsangebot da. Ein literarischer Satz eben.

Monika Maron steht auf, sofort rauscht ein Schwung Energie durch den dösenden Momo. Die Leine, der Mantel - die Glücksverheißungen für Hunde liegen in den immer gleichen Gegenständen und Abläufen. Einmal, sagt Monika Maron, sei Momo in ein Rapsfeld gelaufen, die Leine um den Hals. Sie hat ihn gerufen, er gab keinen Laut. "Dann bin ich ins Rapsfeld. Sind Sie schon einmal durch ein Rapsfeld gelaufen?" Ihre Vision war: einen Herzinfarkt zu bekommen und zur Erntezeit tot neben dem verendeten Momo gefunden zu werden. Der eine ist Optimist, der andere Pessimist.

Auf Höhe der Kastanien wirft Monika Maron ein paar Stücke Trockenfutter auf den Boden. Sofort stürzen zwei Krähen aus dem Geäst und picken die Mahlzeit auf.


Hilmar Klute
============
Hilmar Klute, geboren 1967 in Bochum, hat in München studiert, kam auf verschlungenen, aber im Groben zielführenden Pfaden zum Streiflicht, das er seit einem halben Jahrzehnt mit anderen zusammen lebendig hält und seit 2010 auch verantwortet. Hinzu kommen Reportagen, Essays und Porträts sowie ein kleines Buch, das von der Metaphysik des Hundes und seiner Besitzer handelt.