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Ein Artikel aus der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 11.05.2018

http://sz.de/1.3974171

Wirtschaft, 11.05.2018

Bei uns in London

Marx lebt
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Von Björn Finke

Ein Gespenst geht um zwischen den Glastürmen in Londons Finanzvierteln - das Gespenst des Marxismus. Investoren und Banker fürchten, dass die stark nach links gerückte Labour-Partei bald die Macht übernehmen könnte. Innerhalb des Kabinetts und der konservativen Fraktion von Premierministerin Theresa May streiten EU-Freunde und -Gegner verbissen über den Brexit-Kurs. Je konkreter die Austrittsverhandlungen mit Brüssel werden, desto härter werden die internen Kämpfe. Ein Zerbrechen der Regierung und Neuwahlen sind nicht ausgeschlossen. Zwar ist Jeremy Corbyn, der altlinke Chef der Oppositionspartei Labour, in der Bevölkerung nicht sonderlich beliebt, aber gegen zerstrittene und zermürbte Konservative hätte er eine Chance auf den Wahlsieg. 200 Jahre nach der Geburt von Karl Marx könnte dann ein Marxist in London regieren; dort, wo der deutsche Philosoph am Ende gelebt hat und begraben ist. Wie passend.

Für erzkapitalistische Banker ist das eine Horrorvorstellung. Allerdings kann die Angst vor dem roten Mann zugleich lukrativ für die Finanzprofis sein. So hat eine ungenannte Bank in London im Auftrag eines ebenfalls ungenannten US-Unternehmens einen "Corbyn Hedge" entwickelt, wie die Zeitung The Times berichtet. Ein Hedge bezeichnet eine Absicherungsstrategie, eine Versicherung gegen unerfreuliche Ereignisse. Der Auftraggeber erwartet Nachteile fürs Geschäft, wenn Corbyn May ablöst. Kommt es dazu, will er eine Ausgleichszahlung erhalten, um seine Verluste zu verringern. Die Bank erfüllte diesen Wunsch, indem sie an den Devisenmärkten auf einen Fall des Pfund-Kurses wettete.

Analysten gehen davon aus, dass Investoren bei einem Machtwechsel im großen Stil Kapital aus dem Königreich abziehen werden. Dies würde das Pfund belasten: schlecht für Menschen, die Pfund-Reserven horten. Doch der bekümmerte US-Konzern würde eine ordentliche Auszahlung erhalten, weil die Bank in seinem Auftrag auf den Absturz der Devise wettet.

Corbyns Chef-Stratege John McDonnell versucht derweil, die Sorgen der Banker und Investoren zu zerstreuen. Der begeisterte Marxist, der nach einem Wahlsieg Finanzminister würde, sagte früher, er wolle das kapitalistische System niederreißen. Nun hat er eine "cup of tea"-Offensive ausgerufen, was martialisch klingt, aber ganz freundlich bedeutet, dass er sich regelmäßig mit Top-Managern aus der Londoner City auf eine Tasse Tee trifft. Dort verspricht er, die Interessen der wichtigen Geldbranche zu berücksichtigen; seine Politik solle nicht zu einer Abwertung des Pfund oder gar einem Abschwung führen.

Viele Banker bleiben skeptisch. Corbyn wurde vor drei Jahren überraschend zum Labour-Chef gewählt. Seitdem ist der Einfluss der Linken in der Partei stark gewachsen. Das Programm sieht jetzt höhre Steuern für Unternehmen und Reiche sowie mehr Schulden vor. Eisenbahnen, Strom- und Wasserversorger sollen verstaatlicht werden. Macht und Wohlstand wollen Corbyn und McDonnell "unumkehrbar", wie sie sagen, zugunsten der Arbeitnehmer umverteilen - und zulasten der Konzerne. Einfach gespenstisch, finden viele Manager.


Björn Finke
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Geboren 1976 in Düsseldorf, Studium der Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität zu Köln und der London School of Economics and Political Science (Abschluss 2002 als Master of Science in European Social Policy), danach Besuch eines Graduiertenkollegs der Universität Bremen. Außerdem Absolvent der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft, seit 2004 bei der Süddeutschen Zeitung in München und seit 2013 SZ-Wirtschaftskorrespondent in London.