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From an article series of the NZZ on trains, the essay by the novelist Adolf Muschg on model trains, railways and the sense of belonging. Below just an extract with the bits relating to 'Heimat' as taster (article too long for the German Studies character restriction). It's worthwhile following the link for the full article which also contains an embedded video with Muschg's reading of it: https://www.nzz.ch/meinung/nichts-hat-mir-so-viel-heimat-beigebracht-wie-die-eisenbahn-ld.1316524?mktcid=nled&mktcval=107_2017-9-17
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Nichts hat mir so viel Heimat beigebracht wie die Eisenbahn
Die Eisenbahn und die Kindheit gehören für mich zusammen - unerfüllbare Träume eingeschlossen. Sie haftete auf Schienen am festen Boden, und doch führte sie in eine unerhörte Freiheit hinaus.
Adolf Muschg 18.9.2017, 05:30 Uhr

Meine Mutter ist noch im vorletzten Jahrhundert an den Schienen zur Welt gekommen, auf der Strecke Winterthur-Frauenfeld, wo ihr Vater zuerst Bahnwärter, am Ende Bahnmeister war. Die Qualifikation für dieses Thema müsste also in meinem Genom zu finden sein, aber ich lasse mein eisenbahnerisches Vorleben doch besser in meiner Kindheit beginnen - bei meiner Märklin-Lok zum Aufziehen, die, pro forma, noch mit Dampf fuhr, weshalb sie mit dem Tender zusammen eine leicht manipulierbare Einheit bildete, während das Ankoppeln der drei Personen- und eines Tankwagens schon erhebliche Fingerfertigkeit benötigte. Das besorgte man besser abseits der Strecke, bevor man die im Leerlauf surrende Lok los- und fahren liess. [...]

Mir scheint, nichts hat mir so viel Heimat beigebracht wie die Eisenbahn: Sie haftete auf Schienen am festen Boden, und doch führte sie in eine unerhörte Freiheit hinaus und blätterte eine immer andere Landschaft auf, aber jede gespeichert als ein Ort, zu dem man ein Leben lang zurückkommen konnte, und diese Orte hatten Namen wie Ennenda, Mitlödi oder Luchsingen-Hätzingen. Der Fahrplan einer Schulreise nach Braunwald gehört zu den ersten Schriftstücken von meiner Hand, und neben jeden Ort hat sie auch eine Zahl gemalt: 10.36, 10.42, 10.56. Man musste nicht schneller zum Mittagessen in Braunwald ankommen, sondern rechtzeitig. Die Eisenbahn 3. Klasse, mit ihren Holzbänken und Gepäcknetzen, an denen sich turnen liess, wenn der Lehrer nicht hinschaute, war ihr eigenes Raum-Zeit-Gefäss mit der wunderbaren Eigenschaft, dass man darin zugleich fahren und vollkommen da sein konnte, bis zur Selbstvergessenheit, während die Landschaft gemächlich vorüberzog - oder auch einmal verhältnismässig rasend.
Sie konnte einen kühn machen, die Eisenbahn, zum Beispiel auf jener Schulreise in der fünften Klasse, als mir zum ersten Mal aufging, dass das Mädchen im selben Abteil womöglich nicht nur ein blödes Weib war, sondern Trägerin eines ahnungsvollen Geheimnisses mit Rock und Zöpfen, das man als Schatz haben konnte, auch wenn man es dann kaum noch anzusehen wagte. Kühn war auch, dass ich in einem sogenannten freien Aufsatz eine Fahrt nach Schaffhausen als «Reise durch das Deutsche Reich» beschrieb. Es war Krieg, immer noch, und vor der Fahrt durch die zwei deutschen Dörfer Jestetten und Lotstetten wurden die Storen heruntergelassen: Die Kirchtürme, die man durch die Ritze trotzdem erspähte, gehören seither zu meinem Urbilderschatz unheimlicher Fremde, die sich nie mehr ganz entzaubern lassen. Diese Grenze bleibt, auch wenn ich mich inzwischen in Göttingen, Weimar und Berlin nicht weniger heimisch fühle als, beispielsweise, in Männedorf bei Zürich - aber deutlich anders heimisch.

Damit ist ein nationaler Subtext angesprochen, den man von mir wohl eher erwartet hat als eine «recherche du temps perdu» am Leitfaden einer Spieleisenbahn. Es wäre aktueller gewesen, und pikanter, die havarierten Gleise der Deutschen Bahn bei Rastatt - auf der Hauptschlagader des Verkehrs zwischen Genua und Rotterdam - mit der helvetischen Eisenbahnkultur zu vergleichen, die ihren Plan B gleich in Gestalt zweier monumentaler Alpentransversalen - Gotthard und Lötschberg-Simplon - ausgelegt hat und vermutlich auch mit einer Untertunnelung der eigenen Strecke nicht überfordert wäre. Wir sind in der Schweiz vorsorglicher, sauberer und vor allem pünktlicher, das wird uns der deutsche Neid lassen müssen, der uns von Herzen gut tut; ich sage dazu nur: geschenkt. [...]