Ein Artikel aus der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 12.09.2017

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Außenpolitik, 12.09.2017

Großbritannien

Mahnmal des Versagens
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Von Cathrin Kahlweit

Zwei Verteidigungsringe sind um die Reste des verkohlten Grenfell Tower gezogen worden, der North Kensington wie ein schwarzes Monstrum überragt, und es ist kaum zu sagen, welcher von beiden schwerer zu überwinden ist.

Eine hohe Metallmauer zieht sich rund um das Gebäude, Polizeiautos und Bauwagen blockieren die Zufahrten. Auf einem Balkon des Wohnturms, in dem vor drei Monaten etwa 80 Menschen verbrannten, werkelt ein Bautrupp. Manchmal finden die Arbeiter noch menschliche Überreste und alarmieren dann Ermittler und Pathologen. Erst 57 Opfer sind identifiziert.

Der zweite Abwehrring ist unsichtbar, er besteht aus Wut und Abschottung. Die Betroffenen fühlen sich verraten, verkauft, vergessen. Rund um die Ruine haben sie Plakate aufgehängt, die Voyeure abschrecken sollen, sie wollen nicht angesprochen, ausgefragt werden. "Denken Sie daran, dass wir einen unerträglichen Verlust erlitten haben", steht darauf, außerdem: Fotografieren verboten. Teilnahme an den Anwohner-Versammlungen nur mit Adresse und Ausweis. Im Hilfszentrum der Gemeinde, wo Essen, Kleidung und psychologische Betreuung angeboten werden, wacht eine Frau namens Gloria über den Eingang; kein Zutritt für Außenstehende, sagt sie. Ein paar Frauen in Hidschabs, die im Vorhof stehen, wenden sich ab.

Die Polizei spricht nicht von fahrlässiger Tötung, sondern von Mord
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"Sie sollten den Turm so stehen lassen, wie er ist, als Zeichen für das Versagen dieses Staates", sagt, eher müde als empört, die Anwohnerin eines benachbarten Wohnblocks. Sie war in jener Nacht vor drei Monaten, als das hohe Gebäude in Flammen aufging, nicht daheim gewesen. Ein defekter Kühlschrank hatte das Feuer ausgelöst. Eine leicht entflammbare Gebäudeverkleidung - anstelle einer teureren, nicht brennbaren Fassade - hatte die Katastrophe beschleunigt. Viele Menschen waren in ihren Wohnungen verbrannt, einige aus den Fenstern gesprungen.

Weil die Feuerwehr überfordert war, weil ein schicker Neubau die Zufahrt für die großen Löschwagen beengte, weil es nur ein Treppenhaus gab. Weil bei der vorangegangenen Modernisierung auf Sprinkler verzichtet worden war, für die man Löcher in den gesundheitsgefährdenden Asbest hätte bohren müssen. Und weil an der Sicherheit des Wohnturms im armen Viertel gespart wurde, der mittlerweile, wie viele einstige Objekte des sozialen Wohnungsbaus, privatisiert wurde - während nebenan, im reichen Teil von Kensington, die Immobilienpreise explodieren. Eine neue Studie zeigt, dass Wohnungen zwischen fünf und zehn Millionen Pfund zuletzt besonders gut gingen. Ausreißer nach oben: ein Luxusobjekt für 99 Millionen Pfund.

"Es ist die Zeit für Empörung"
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Der Guardian hat vorgerechnet, dass unweit des armen Viertels etwa 1650 Luxuswohnungen leer stehen, weil ihre reichen Besitzer im Ausland leben oder sie als Anlageobjekte benutzen. Auch rund um den Grenfell Tower sind derzeit viele Wohnungen unbewohnt - weil sie durch Asche und Gestank unbenutzbar geworden sind. Bis heute leben viele Bewohner, die den Höllenbrand überlebten, in Hotels oder bei Verwandten, die Stadt hat neue Wohnungen versprochen, aber nicht geliefert.

Die Menschen warteten bis heute auf Entschädigungen und seien verwirrt von unklaren Zuständigkeiten, sagt Victoria Vasey vom North Kensington Law Center, einer kostenlosen Rechtsberatung. Sie beklagt, die Kommune sei anfangs "nicht da gewesen", jetzt arbeite sie besser, aber noch zu langsam. Kurz nach dem Brand waren die Überlebenden von Hilfsangeboten überrollt worden; Bezirksverwaltung und Regierung hingegen erwiesen sich in den Augen vieler Opfer als inkompetent. Theresa May, die wenige Tage zuvor zur Premierministerin gewählt worden war, schaffte es, bei ihrem Besuch mit keinem einzigen Betroffenen zu sprechen. "Outrage is now" steht nun auf einem riesigen Banner an der U-Bahn-Station Latimer Road neben dem Turm, "Es ist die Zeit für Empörung."

Scotland Yard ermittelt derweil intensiv gegen den Royal Borrow of Kensington und Chelsea, also die Bezirksverwaltung, und gegen die für den Grenfell Tower zuständige private Hausverwaltung. Die Polizei spricht nicht von fahrlässiger Tötung, sondern sogar von Mord und will beweisen, dass Missmanagement zur Katastrophe geführt hat. Auch deshalb tobt nun, weit über Kensington und London hinaus, eine Debatte über die bürokratische und politische Verantwortung - und über die britische Klassengesellschaft, deren Gefälle sich im Königreich auf dramatische Weise beim Wohnraum manifestiert.

Politisch geht es um mehr als nur Schlamperei
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Dieser Kampf wird sich am Donnerstag an einem anderen Ort als dem Grenfell Tower fortsetzen: Dann beginnt in den Connaught Rooms, einem Konferenzzentrum in London, eine öffentliche Untersuchung, die von der unter massivem politischen Druck stehenden Theresa May zugesagt worden war. Der pensionierte Richter Martin Moore-Bick wird vor Überlebenden und ihren Familien, vor allem aber vor einer mehr als kritischen Öffentlichkeit erklären, was die von ihm geleitete Enquete leisten will: nach den Gründen für die Katastrophe mit Ansage zu suchen. Denn Anwohner hatten seit Jahren vor dem gewarnt, was am 14. Juni geschah.

Moore-Bick hat auch gesagt, was die Untersuchung nicht leisten wird: den politischen Ursachen auf den Grund zu gehen. Denn das würde in letzter Konsequenz bedeuten, neben behördlicher Schlamperei, notorischem Sparzwang und schlichtem Desinteresse an Sozialhilfeempfängern auch Größeres zu thematisieren: Deregulierung, Privatisierung, radikale Kürzung von öffentlichen Ausgaben, gelockerte Bauvorschriften, rasant steigende Mieten.

Die frisch gewählte Labour-Abgeordnete für den Bezirk Kensington, Emma Dent Coad, ist empört. In ihrer ersten Rede im Unterhaus sagte sie: "Die ausgebrannte Hülle spricht für sich selbst. Sie zeigt das wahre Gesicht von Kensington. Die Maske ist gefallen. Die Menschen erwarten nun Gerechtigkeit - und eine faire Untersuchung." Aber daran glaubt sie heute nicht mehr. "Der Brand war ein Symbol für falsche politische Entscheidungen, fehlende Fürsorge, fehlgeleitete Investitionen." Dent Coad war mit knappen 20 Stimmen Mehrheit in dem traditionell konservativen Stadtbezirk gewählt worden. Ihr Wahlkampfthema: die dramatische soziale Ungleichheit.


Cathrin Kahlweit
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Studium Russisch und Politik in Eugene (USA), Tübingen, Göttingen und Moskau; danach Hamburger Journalistenschule von Gruner & Jahr. Freie Arbeit für die Zeit, das Bayerische Fernsehen, P.M., ab 1989 Redakteurin bei der SZ: mehrere Jahre in der außenpolitischen Redaktion, dann Korrespondentin für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland, Rückkehr nach München in die innenpolitische Redaktion mit Schwerpunkt Familien- und Gesellschaftspolitik, drei Jahre Leitung der Seite 2 (Themen des Tages). Wechsel nach Berlin als Redaktionsleiterin der Talk-Show "Anne Will", Rückkehr zur SZ in die Außenpolitik, heute Korrespondentin in Wien. Buchautorin; Mutter von drei Kindern.