Die Historikerin Barbara Duden hat nicht nur die deutsche Frauenbewegung mitbegründet – sondern auch eine eigene Wissenschaft: die »Körpergeschichte«. Den weiblichen Körper sieht sie als einen politisch umkämpften Ort. Sie spricht da aus eigener Erfahrung. Weiterlesen… »Ich wollte den Leuten immer unter die Haut«

Interview Patrick Bauer 

SZ-MAGAZIN Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung?
BARBARA DUDEN Der Geruch von Himbeeren im Garten meines Großvaters. Ich erinnere mich an den Blick auf den Schliersee. An die Jagdbücher mit Bildern erlegter Hirsche, die der Großvater uns zeigte. Sein Name war Paul Duden, ein Chemiker, Sohn des Sprachforschers Konrad Duden. Ich weiß noch, wie wir mucksmäuschenstill waren, wenn er Mittagsschlaf hielt. Wie das griesgrämige Kindermädchen aus Pommern meiner Zwillingsschwester Alexa und mir Grießbrei mit Himbeersoße servierte. Ich bekomme ein warmes Gefühl. Das ist für mich bis heute zu Hause.

Ein Zuhause ohne Eltern. 
Nun ja. Mein Vater hatte seit 1939 nördlich von Stettin eine Fabrik geleitet, die synthetisches Benzin herstellte. Er war Nazi. SS-Obersturmbannführer und Antisemit. Nach dem Krieg war er in amerikanischer Gefangenschaft, bekam dann zwei Jahre Arbeitsverbot. Danach arbeitete er in Nordrhein-Westfalen, meine Mutter als Übersetzerin im Schwäbischen. Alexa und ich kamen 1945, mit drei, zum Opa nach Bayern. Unsere älteren Brüder lebten im Internat. Wir verehrten die Brüder. Wenn sie kamen, wollten wir ihnen dienen, es ihnen recht machen. In den Ferien besuchte uns auch meine Mutter, in ihrem Sportwagen. Sie war viel eleganter als das trutschige Kindermädchen. Bald düste sie wieder davon. Doch es fehlte uns an nichts in dieser Mädchenidylle. Wir hatten uns. Schliefen in einem Bett. Trugen die gleichen Kleider.

Sahen Sie sich sehr ähnlich?
Oh ja. Sie, die Erstgeborene, hatte nur ein abstehendes Ohr, ich zwei, ansonsten waren wir uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Es gab aber einen größeren Unterschied, den erkennt man schon auf dem ersten Foto, das von uns existiert: Zwei Kinderwagen stehen nebeneinander, und aus dem meiner Schwester ragt das linke Ärmchen steif heraus. Der Arm war ausgewachsen, aber verkürzt, sie konnte nicht richtig greifen. Der linke Fuß war auch beeinträchtigt. Man sagte damals, sie schrägelt. Aber diese Beschädigung, die auf einen Fehler der Klinik nach der Geburt zurückzuführen war, spielte in unserer Kindheit auf wundersame Weise keine Rolle.

Warum nicht?
Weil wir gar keine Begriffe hatten, das zu beschreiben. Alexa war eben so und ich so. Sie war unglaublich witzig und fröhlich und aufgeweckt. Etwas langsamer zwar als ich bei allem, aber in der Dorfschule wurden ohnehin alle Klassen zusammen unterrichtet, und da gab es auch andere Kinder, die ein bisschen seltsam waren, das kümmerte niemanden. Zudem hatten Alexa und ich uns etwas zurechtgelegt, ich weiß gar nicht, wie wir darauf gekommen waren: Wir sagten uns, wenn wir groß wären, würde ein Arzt in Köln Alexas Kopf reparieren, das ginge eben erst, wenn sie ausgewachsen sei, und danach würde alles wunderbar sein.

Diesen Arzt gab es nicht.
Leider trat dann wirklich ein Arzt in unser Leben. Alexa hatte öfter krampfige Anfälle. Danach fühlte sie sich zwar gut und befreit, aber es ängstigte unsere Mutter natürlich. Als wir 13 waren, fuhr sie daher mit Alexa nach Heidelberg in eine Spezialklinik. Da wurde eine Rückenmarkspunktion gemacht und eine Spiegelung der Verhältnisse im Gehirn. Der große Neurologe erklärte meiner Mutter anschließend, es sei ein Wunder, dass Alexa so zugewandt und alert sei. Sie habe das Gehirn eines Spatzen. In der Pubertät würde sie an Fresssucht leiden und auf die Stufe der Intelligenz einer Dreijährigen zurückfallen. Damit fiel ein dunkler Schatten auf unsere Zukunft.

Es spricht doch aber nichts gegen eine medizinische Diagnose?
Nein, aber das, was dieser Gott in Weiß betrieb, war etwas anderes: Es war Prophetie! Denn alles, was er sagte, bezog sich auf die durchschnittliche Prognose bei Kindern mit einem solchen Befund. Dass Alexa sprachbegabt war, ihr Wesen, ihre Eigenarten, all das spielte für ihn keine Rolle. Sie wurde von ihm zu einem gesichtslosen Fall gemacht. Ich verstand damals noch nichts von der Macht statistischer Prädiktion. Aber als meine Mutter in ihrer Sorge mir von der Voraussage erzählte, spürte ich einen Riss. Die Beziehung zu meiner Schwester war nie wieder dieselbe. Die Selbstvergessenheit war weg. Wenn Alexa Nachschlag vom Grießbrei nahm, dachte ich fortan: Es geht los! Sie verblödet!

Die Mädchenidylle war zerstört?
Sogar doppelt. Wir zogen nach Frankfurt-Höchst. Mein Vater wurde bei den Farbwerken als Jurist angestellt und die Kernfamilie wieder vereint. Das war kein Glück, sondern furchtbar mühsam. Das Wort Familienbande, so sagt Karl Kraus, habe einen Beigeschmack von Wahrheit. Eine Familie muss man erst mal ertragen. Meine Eltern hatten lange getrennt gelebt. Es gab keine Gemeinsamkeit mehr. Es wurde über nichts gesprochen. Nicht über Sorgen. Nicht über Freuden. Nicht über die politische Belastung des Vaters. Nichts, nichts, nichts! Meine Generation kommt ja aus der Stummheit. Die Täterschaft der Väter und das Stillschweigen der Mütter war überall und nirgendwo. Mein Vater, ein gebildeter Herr, der Homers Odyssee auswendig konnte, brachte uns zum Verstummen, indem er im Sessel saß und stur summte. Ich denke mit Grausen an diese räumliche Enge bei gleichzeitiger maximaler Distanz.

Wie ging es Ihrer Mutter? 
Sie litt ohne Ende. Heute weiß ich: Sie hatte Depressionen. Sie haderte mit dem Leben. Damit, dass sie nicht hatte Ärztin werden können. Damit, dass wir jetzt weniger wohlhabend waren und ein Reihenhaus bewohnten. Ich konnte ihr nur mit Gesten helfen: eine Decke bringen. Mit ihr rausgehen. Wir schwiegen nicht mal gemeinsam. Jeder schwieg für sich.

Konnten Sie mit Alexa reden? 
Nicht wirklich. Sie wurde, wie man sagt, mit Medikamenten eingestellt. Die Diagnose hatte sie minderwertig gemacht. Wir gingen zum Beispiel nicht in die Tanzstunde, es hätte ja passieren können, dass ich aufgefordert werde und sie nicht. Wir teilten bis zuletzt ein Bett. Aber ich verlor sie schon vor ihrem Tod.

Wie starb Ihre Schwester? 
Durch einen Unfall. Wir waren 15. Alexa konnte mit einer Hand wunderbar Rad fahren. Sie sollte den Hund von Höchst nach Bad Soden zum Trimmen bringen. Sie hätte über die Felder fahren sollen. Aber sie nahm den schnelleren Weg, entlang der Hauptstraße. Dort fuhren viele Lastwagen. Der Lärm erschreckte den Hund, dessen Leine am Fahrrad hing. Er zog Alexa unter einen Laster. Sie war sofort tot. Wir standen auf dem Hauptfriedhof und schwiegen. Ich wollte nur noch Abitur machen – und schnell weg!

Sie blieben aber in Frankfurt?
Ein Semester. Ich besuchte gleich eine Veranstaltung zur »Familiensoziologie«. Ich dachte: Da wird dir erklärt, warum Vater summt und Mutter sich grämt. Aber es ging um den Strukturfunktionalismus nach Talcott Parsons: Frauen machen Hausarbeit. Männer verdienen Geld. Ich spürte erstmals die Gewalt soziologischer Klassifikation. Ich fiel in Ohnmacht. Die Vorlesung musste unterbrochen werden.

Und dann? 
Ich zog nach Wien. Anglistik und Geschichte. Ich fuhr Schlittschuh auf dem Neusiedler See. Ich nähte mir ein Kleid für den Opernball. Es war unschuldig. Ich habe mich verliebt, ohne dafür Worte zu haben. Ich habe studiert, ohne zu wissen, wofür. Es war ein erster Schritt. Der zweite war West-Berlin. Die Mauer, dachte ich, schützt mich endlich vor der Familie. Und dort traf ich Kommilitonen, mit denen das Schweigen gebrochen werden konnte.

An der Freien Universität formierte sich die Studentenbewegung. 
Es war einzigartig. Das Friedrich-Meinecke-Institut war ein Ort im Aufbruch. Die Professoren luden uns zum Tee ein. Im Apfelgarten paukte ich Daten zur mittelalterlichen Geschichte, am Abend lasen wir das Kapital von Marx. Ich wurde Hilfskraft und finanziell unabhängig. Dann kam schon die Frauenbewegung.

Das sagen Sie so lapidar. Wo kam die denn auf einmal her?
Aus unserem Innersten. Wir Frauen spürten, dass wir noch immer ohnmächtig waren. Die Männer, egal wie marxistisch oder langhaarig sie waren, bestimmten, was geredet wird. Und geredet wurde über Männer. Als wir zum Beispiel im Seminar Max Weber durchnahmen, fiel uns auf: Marianne Weber, die selbst hervorragende Texte geschrieben hatte, kam nur als Witwe und Nachlassverwalterin vor. Wie in den Geschichtswissenschaften alle Frauen Randnotizen waren. Das wollten wir ändern.

Und wie?
Indem wir laut wurden. Die männlichen Kommilitonen kriegten richtig einen reingewürgt. Und wir recherchierten, begannen selbst zu schreiben. Es gab keine Bücher über Frauen in der Geschichte. Wir wollten erforschen, wie Frauen seit Jahrhunderten zurechtgekommen waren trotz allem. Uns interessierte die Geschichtlichkeit unserer Mütter. Die Geschichtlichkeit des Schweigens der Mütter. Ja, auch unsere eigene Geschichtlichkeit. Wir wollten aus der Geschichte unsere Geschichte machen. Es war hoch erotisch.

Erotisch?
Wir lernten uns selbst und uns gegenseitig und die Frauen, über die wir schrieben, von Nahem kennen. Da war ein intellektuelles Feuer. Eine unbändige Lust. In meiner Erinnerung ist die Frauenbewegung ein wunderbarer Geschmack im Mund, der mich nie wieder verlassen hat.

Gab es auch erotische Männer?
Wie indiskret, aber nein: In der Zeit hatte ich nur Beziehungen zu Frauen. Ich zog am Olivaer Platz in eine Wohngemeinschaft mit acht Frauen. Die zwei Männer, die dort gewohnt hatten, schmissen wir raus. Wir hatten gar keine Zeit für Männer. Männer mussten sich jetzt mal hinten anstellen. Wir lernten aus der Frauengeschichte, dass wir selbst Geschichte schreiben können.

Wer waren Ihre Vorbilder?
Ich habe eine Examensarbeit über die Schriftstellerin Rahel Varnhagen und andere jüdische Frauen in den Berliner Salons um 1800 verfasst. Diese Damen haben sehr mutig versucht, die ständischen Strukturen zu durchbrechen.

Und das taten Sie nun auch.
Tja, auch für mich lag anderthalb Jahrhunderte später noch nahe, bald zu heiraten. Was denn sonst? Aber ich wusste: Ich werde nicht in diese Falle laufen! Ich werde, wie diese Frauen im 18. Jahrhundert, die Liebe von der Ehe trennen!

Wurde um Ihre Hand angehalten?
Es gab wohl vielversprechende Bewerber. Ich habe stets gesagt: Nein! Nie! Ich wollte Freundin sein. Liebhaberin. Aber ich hatte gelernt, welches Elend für die Frau mit der Ehe verbunden sein kann.

Hätten Sie es nicht besser machen können? Die Ehe revolutionieren?
Ich lehnte das gesamte Konzept der genormten Zweisamkeit ab. Sie glauben nicht, welchen Zwängen Frauen unterworfen waren. Wann sind Sie geboren?

1983.
Sehen Sie: Noch in Ihrem Geburtsjahr hielt die Grünen-Abgeordnete Waltraud Schoppe im Bundestag eine historische Rede, in der sie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe forderte. Schoppe schilderte die ganze Widerwärtigkeit des standardisierten Geschlechtsverkehrs, den auch diese Parlamentarier abends an ihren Frauen vollzogen. Sie erklärte ihnen, wie einzigartig Frauen empfinden. So brachen wir Tabus: Wir machten persönliche Erfahrungen öffentlich. Wir wehrten uns dagegen, dass Männer über unseren Körper bestimmten. Es ging nicht nur um Sex. Auch um Medizin.

Die Pille wurde entwickelt.
Wir schusterten uns Adressen von Ärzten zu, die empfängnisverhütende Mittel verschrieben und Schwangerschaftsabbrüche vornahmen. Das Thema zeigt wie kein zweites, dass der Frauenkörper ein öffentlicher Ort war und ist. Dass mit ihm Politik gemacht wird. Die Neuregelung des Abtreibungsrechts von 1995 ist frauen-geschichtlich extrem interessant: Sie bedeutete zwar eine partielle Entkrimina-lisierung, aber auch eine krasse Moralisierung. Seither sollen sich Frauen vor einem Eingriff per Ultraschall ein zuckendes Ding anschauen. Sie sollen sich in ein befruchtetes Ei einfühlen! Als müsste der Frauenkörper vor der Frau geschützt werden. Als hätte sie kein eigenes Empfinden! Früher konnte nur eine Frau spüren, ob sie schwanger ging. Heute wird ihr am Monitor demonstriert, dass sie sich schwanger zu fühlen hat.

Waren Sie selbst schwanger?
Alle sprachen damals öffentlich, also: Ja, ich hatte einen Schwangerschaftsabbruch. Freundinnen betrieben eine Praxis. Der Eingriff ist ja technisch sehr einfach. Es war nüchtern, aber teilnehmend. Ich hätte das Kind gern gehabt. Aber es war unmöglich. Es gab keinen Mann dazu. Das war schwer, aber nicht schuldhaft. Es war mein Körper. Mein Schmerz.

Sie gelten als Begründerin der Körpergeschichte. Was ist das genau?
Die Körper- oder Sinnesgeschichte untersucht die Geschichte der somatischen Selbstwahrnehmung. Wie haben sich die Menschen einer bestimmten Zeit gefühlt – und aus welchen Quellen speiste sich das Empfinden? So wurde das Konzept des erlebten Körpers als Thema der Geschichtswissenschaft erst etabliert.

Wie kamen Sie auf diesen Ansatz?
Anfang der Achtziger stieß ich in einer Bibliothek in Bamberg durch Zufall auf die Aufzeichnungen eines Eisenacher Arztes aus dem 18. Jahrhundert. Der hatte die Klagen Hunderter Patientinnen verschriftlicht. Eine harte, sagenhafte Quelle. Das wurde meine Promotion.

Was interessierte Sie daran?
Zunächst wollte ich einfach verstehen, worüber diese Frauen da klagen, denn ihre Gefühle waren mir fremd. Das adlige Hoffräulein, das von einem »Flattern um das Herz« spricht, das sie seit der Flucht vor den Schweden spüre. Heute würden wir sagen: Angstzustände. Die Schneiderswitwe, die Sorge hat, dass in ihr etwas »versteinert«. Heute sagen wir: Wechseljahre. Ich verstand, dass ich diese Dokumente nicht mit modernen medizinischen Begriffen analysieren könnte. Ich verstand, dass zu der Zeit undenkbar war, Psyche und Physis zu trennen. Um diese Frauen zu verstehen, musste ich erst mal den Körper, in dem ich selber aufgewachsen war, auf Distanz bringen und verstehen, dass ich mich auch nur so fühlte, wie ich mich fühlte, weil ich es so gelernt hatte. Durch den Biologismus, der bis in die Siebzigerjahre noch galt und der die Frau mit der vermeintlichen Natur der Frau unterdrückte. Meine Kenntnisse über die Frauen von 1730 halfen mir, Distanz zu mir selbst zu gewinnen. Einen Moment der Selbstvergessenheit zu erlangen.

Das Gefühl vom Schliersee?
Klar! Es ging darum, sich zu verstehen jenseits der Zuschreibungen, die Medizin und Zeitgeist einem geben. Alexa und ich hatten das gekonnt. Ich wollte den Frauen in diesen alten Texten unter die Haut. Ich wollte den Leuten immer unter die Haut.

Weil in Ihrer Familie keiner aus seiner Haut gekommen war?
Vielleicht. Aber meine Promotion war schon mehr als eine persönliche Emanzipation. Mit der Körpergeschichte brach auch die Deutungshoheit der Medizin über den Körper zusammen. Nun befassten sich auch Historiker damit.

Täuscht der Eindruck, dass Sie dem Heidelberger Neurologen nie verziehen haben? Misstrauen Sie der modernen Medizin?
Ich vertraue ihr jedenfalls nicht blind. Ich habe eine wunderbare Hausärztin. Aber ich würde nie zu einem Mediziner gehen, der mich durch ein statistisches Raster anschaut. Der also wie so viele nach Sta- tistik und Wahrscheinlichkeit geht und davon schwatzt, was mir theoretisch widerfahren könnte. Ich rauche zum Beispiel. Jeder weiß, dass Rauchen Krebs verursachen kann. Aber jeder kennt auch einen Kettenraucher, der nicht an Krebs gestorben ist. Was mich an der modernen Medizin stört, ist der Aufstieg und die Macht des Risikobegriffs. Die Zukunft überschattet heute die Gegenwart.

Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Pränataldiagnostik. Schwangere lernen heute, Risikoträgerinnen zu sein, die aus diversen Testmöglichkeiten auswählen müssen, die suggerieren, die Zukunft sei beherrschbar. Das sorgt für Angst und Furcht, sich später Vorwürfe machen zu müssen, wenn man nicht alles, was getestet werden kann, ausgeschlossen hat. Eine vertrauensvolle Schwangerschaft und Geburt ist so doch kaum möglich. Die Medizin hat sich von einer Heilkunde zu einem Dienstleis-tungssystem gewandelt, in dem die erfahrbare Körperlichkeit keine Rolle mehr spielt. Ich bin nicht grundsätzlich gegen moderne Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Aber es befremdet mich, wenn die eigenen Sinne der Patienten nicht mehr gehört werden. Ich fühle mich doch nicht als Immunsystem. Ich fühle mich als Barbara Duden.

Und wie fühlt sich Barbara Duden? 
Bestens. Körperlich sowieso. Aber ich weiß auch, wie privilegiert ich bin. Ich hatte großes Glück. Ich konnte immer das tun, was ich wollte. Ich habe unglaubliche Freunde finden können.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ich glaube, ich bin darauf vorbereitet, das gut zu machen.

Gut zu sterben?
Es stirbt sich ja nicht leicht. Aber das Sterben aus der Nähe zu erleben hat mir die Angst davor genommen. Zu sehen, wie aus einem Menschen ein Leichnam wird. Ihn zu waschen. Das Wasser gut wegzuschütten. Mit dem Toten zu sitzen. Das Verrückte ist doch: Wir sehen jeden Abend im Krimi Leichen, haben aber das Wissen verloren, dass der Tod zum Lebendigsein dazugehört. Ein lieber Freund, der Philosoph Ivan Illich, mit dem ich in Bremen und auch in den USA lange zusammengelebt habe, hat jedenfalls immer gesagt: Wenn sie stinken, müssen sie wirklich unter die Erde.

Vor 14 Jahren starb Illich.
Ivan war lebensvoll. Er hat sich mittags hingelegt im Bremer Haus und ist gestorben. Ein befreundeter Arzt kam und wollte die Todesursache feststellen, und ich habe gefragt: Welche Bedeutung hat das jetzt? Ivan hatte sich immer geweigert, als Fall gesehen zu werden. Er hatte Speicheldrüsenkrebs. Aber er wollte kein Krebspatient werden, er ließ sich nie so behandeln. Zwanzig Jahre lang, viel länger als prognostiziert, lehrte er seine Studenten mit einer dicken Backe auf der rechten Seite seines Gesichts.

Mit Illich lebten Sie zusammen in einem »gastlichen Haus«, wie Sie das nennen. War das der Ersatz für die verhasste Kernfamilie?
Kein Ersatz. Es war ein großes Geschenk, mit Ivan zu denken, zu studieren und zu leben. Er war ein begnadeter Gastgeber. Wir haben ein offenes Haus geführt. Das hieß: Nach den Vorlesungen konnte jeder zu uns kommen. Es wurde gegessen, getrunken. Gelacht und geredet ohne Pause.

Es war nie wieder still.
Das kann auch anstrengend sein. Aber es braucht das Sprechen und Zuhören, um zu verstehen. Ich wollte die Kindheitserfahrung ernsthaft hinter mir lassen und auch nicht Jahrzehnte an diesem Rad der Verletzungen drehen. Ich wollte nicht das Opfer dieser Geschichte werden. Ja, ich wollte etwas anderes erreichen. Auch für Alexa.

Wie fanden Ihre Eltern Ihre ungewöhnliche Karriere?
Mein Leben hat sie zunächst beunruhigt. Ich sollte wohl ordentlich unter die Haube kommen und Kinder großziehen. Erst als ich Professorin war, glaube ich, war meiner Mutter und meinen Brüdern klar, dass es Grund gibt, stolz zu sein. Mein Vater erlebte das nicht mehr.

Woran starb er?
Bei meinem Vater hat die Sprachlosigkeit eines Tages zu Angstzuständen geführt. Meine Mutter hatte sich von ihm getrennt. Sie arbeitete auch wieder als Übersetzerin. Sie hat bis an ihr Lebensende geklagt, dass es nicht an ihr gelegen habe, dass sie zuvor nicht ausgebrochen sei aus ihren Zwängen und Nöten, sondern an den Umständen. Als sie viele Jahre nach meinem Vater starb, sah sie aus wie ein junges Mädchen. Mein Vater lebte vor seinem Tod mit einer neuen Frau zusammen. Wortlos wie eh und je. So landete er in den Siebzigerjahren vorübergehend in einer psychiatrischen Klinik. Er dachte, er sei wieder im Ersten Weltkrieg, in dem er gekämpft hatte, und hörte ständig das Flakfeuer.

Haben Sie ihn besucht?
Ich bin sofort aus Berlin angereist. Er war verwirrt. Hilflos und panisch, sprach von der Flak. Ich habe mich zu ihm ins Bett gelegt und ihm zwei Tage die Füße gehalten. Er starb später an Geschwüren, die er sich im Krankenhaus zugezogen hat.

Als Sie bei ihm lagen, was haben Sie Ihrem Vater gesagt?
Ich habe gesagt: Der Krieg ist vorbei.
»Es stirbt sich ja nicht leicht. Aber das Sterben aus der Nähe zu erleben hat mir jede Angst davor genommen«

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Barbara Duden und ihre eineiige Zwillingsschwester Alexa (im Bild rechts) wurden am 27. August 1942 in Greifswald geboren. Ihr Vater war ein Enkel von Konrad Duden. Barbara Duden arbeitete nach dem Studium als Journalistin für den WDR und war in Berlin an der Gründung der feministischen Zeitschrift Courage beteiligt. 1986 wurde Barbara Duden mit der Dissertation Geschichte unter der Haut: Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730 promoviert. 1993 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über die Darstellungen des Ungeborenen in anatomischen Atlanten. Ab 1997 unterrichtete Duden am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover. Sie lebt heute in Bremen, Berlin und Leipzig.

PATRICK BAUER stellte nach vier Stunden gespräch mit Barbara Duden fest, dass Duden unlängst auf einem Kongress leidenschaftlich mit Bauers Mutter, einer Professorin für Hebammenwissenschaft, diskutiert hatte. Thema: die Macht der Statistik.