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Dear All,

In the unlikely event that any of you may have forgotten, these are also 
the issues that Gumbrecht discussed in his lecture "The Future of the 
Humanities", held at Sheffield not too long ago:

https://www.youtube.com/watch?v=88Ij4C8fakM

ATB,
Henk




-------- Forwarded Message --------
Subject: 	NZZ 17.11.2016: Essay by Hans Ulrich Gumbrecht
Date: 	Thu, 17 Nov 2016 06:56:13 +0000
From: 	Henrike Laehnemann <[log in to unmask]>
Reply-To: 	Henrike Laehnemann <[log in to unmask]>
To: 	[log in to unmask]



Neue Zürcher Zeitung am Morgen: Essay
<http://click.email.nzz.ch/?qs=dcc83317d39e5cb6badc17bcb0eb8aa672234e7ba594794be58c0afc4ec3724a665782360285622e> 
by
Hans Ulrich Gumbrecht on the change from scientists to computer
specialists as pacemakes, and the role of humanities
***
*Ingenieure verändern die Welt. Das riskante Denken der
Gegenwart von Hans Ulrich Gumbrecht 17.11.2016, 05:30 Uhr*

Es sind die Ingenieure und Computerspezialisten, die unsere Welt
umgestalten, nicht die nach Wahrheit suchenden Naturwissenschafter.
KOMMENTARE

Früh im zwanzigsten Jahrhundert haben die Namen der
naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger gestrahlt, als wären sie
Symbole für die höchste Erfüllung des Menschseins durch aktives Denken.
Selbst die Nationalsozialisten in Berlin reagierten mit Krisenstimmung
auf den Entschluss des österreichischen Staatsbürgers Erwin Schrödinger,
der im Jahr ihrer «Machtergreifung» den Nobelpreis für Physik gewonnen
hatte, nach einem Ferienaufenthalt in Italien nicht auf seinen Lehrstuhl
in der deutschen Hauptstadt zurückzukehren. Als «Gesicht des
Jahrhunderts» galten lange Zeit Fotografien von Schrödingers
deutsch-jüdischem Nobel-Vorgänger Albert Einstein, der dem Albtraum des
Nazismus entfloh und in Princeton überlebte. Figuren wie ihn, Marie
Curie oder Werner Heisenberg verehrte man dafür, der Natur in
langwierigen Forschungsprozessen das Geheimnis ewiger Wahrheiten
abgerungen und sie in Gestalt mathematischer Formeln aufgeschrieben zu
haben.

Heute bleiben die Namen der jeweils jüngsten Nobelpreisträger kaum
länger als einen Tag nach ihrer Ankündigung präsent. Die Auszeichnung
gilt zwar weiterhin als die grösste denkbare Ehre für die meist
akademischen Institutionen, wo solche Spitzenforscher arbeiten, und als
Anzeichen für die Stärke nationaler Wissenschaftssysteme. Doch ihr
gesellschaftlicher Stellenwert ist auf den Status von Chiffren für
fortgeschrittene Erkenntnisse geschrumpft, deren Komplexität unser
nichtspezialisiertes Denken überfordert und deren möglichen Einfluss auf
unser Leben wir kaum erahnen.

Nicht mehr die den tiefen Wahrheiten verpflichteten Forscher besetzen
heute die Rolle der intellektuellen Helden (oder Pop-Stars). Vielmehr
ist es der Typ des Ingenieurs, der das Alltagsleben einschneidend und
unumkehrbar verändert, ohne dabei je einen Wahrheitsanspruch zu erheben:
Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg zum Beispiel; die
Google-Gründer Larry Page und Sergei Brin, ihre frühere Kollegin Marissa
Mayer oder der in Südafrika geborene Tesla-Chef Elon Musk.

Worin genau ihre individuelle Innovationsleistung lag, wer die
ausschlaggebenden Ideen für den Apple-Screen, das iPhone, die
Suchmaschinen, den Navigator oder das selbststeuernde Auto hatte, ist in
der Öffentlichkeit kaum mehr nachvollziehbar. Und an die Stelle von
Nobelpreisen sind inzwischen Patente getreten. Sie haben als Schlüssel
zu Schwindel und Neid erregenden Milliardenvermögen die eher asketische
Aura des naturwissenschaftlichen Geistes ersetzt. Der Geist unserer
Gegenwart hat – so scheint es – im Silicon Valley Quartier genommen
(oder in Hyderabad, dem besonders lebhaften indischen Zentrum des
elektronischen Denkens). Diesen Ortswechsel von Europa nach Kalifornien
oder Südindien hat eine Veränderung des Denkstils begleitet.

Ausgerechnet der deutsche Blut-und-Boden-Intellektuelle Martin
Heidegger hat den Übergang seit den späten dreissiger Jahren in seiner
Kritik der modernen Naturwissenschaft erahnt und – wenigstens
ansatzweise – beschrieben. Mit den Forschungsprozessen der
Newton-Tradition verbindet er den Begriff der «Vorhandenheit».
Ausserhalb, gleichsam «vor» der Natur stehend, deutet das menschliche
Bewusstsein deren Gegenstände mit abstrakten Begriffen und
mathematischen Formeln, was zu der (natürlich nicht angestrebten)
Wirkung eines immer weiter wachsenden Abstands zwischen der Natur in
ihrer Konkretheit und der auf das Bewusstsein reduzierten menschlichen
Existenz führt (und zu der möglichen Folge einer
gnadenlosen Beherrschung der Natur durch die Vernunft, wie sich heute
aus ökologischer Sicht ergänzen liesse).

Heideggers positiver Gegenbegriff ist die «Zuhandenheit». Damit
beschreibt er eine schon immer gegebene Vertrautheit der verkörperten
menschlichen Existenz mit der Welt der Dinge, ein «In-der-Welt-Sein» der
Menschen, das sie in eine Beziehung wechselseitiger «Sorge» mit der
Natur versetzt (man kann hier, wie es Heidegger gerne tat, an einen
Hirten, aber auch an einen «umweltbewussten» Architekten denken).

Es gibt in Heideggers späten Texten einige Anhaltspunkte für die
Vermutung, dass er tatsächlich den intellektuellen Gestus des Ingenieurs
mit «Zuhandenheit» assoziierte. Jedenfalls macht uns seine
Unterscheidung darauf aufmerksam, wie es dem dominierenden Denken der
Gegenwart um die Gestaltung des je gegenwärtigen Alltags geht, um eine
Gestaltung gleichsam aus seiner Innenseite heraus – und nicht um ewige
mathematische Wahrheiten im Sinn der Wissenschaftstradition. Statt sie
zu beschreiben, erschaffen die Ingenieure von heute Wirklichkeiten; und
in den Visionen, die dafür entscheidend sind, liegt ein Bruch gegenüber
der Logik der Naturwissenschaften, so sehr auch ihre Arbeit die
Einsichten vor allem der Physik voraussetzt und benutzt.

Dieser Bruch eines ganz anderen Verhältnisses zu den Ergebnissen der
modernen Naturwissenschaften wurde zuerst deutlich in den Bildern
und Wünschen einer Folgegeneration von Spezialisten, welche die seit den
vierziger Jahren (etwa dank Alan Turing) entstandenen
Rechenmaschinen transparenter und für unser Verhalten im Alltag
effizienter machen wollten: durch einen neuen Computerbildschirm, der
die Rechenleistungen der Maschinen sichtbar, allgemein zugänglich und am
Ende tatsächlich berührbar werden liess (im Aspekt dieser Berührbarkeit
vor allem lag für viele Computerspezialisten der ersten Generation noch
ein Tabubruch im wörtlichen Sinn); oder durch die unser Verhältnis zu
Wissen und Bildung revolutionierenden Suchmaschinen, die das stets
begrenzte Vermögen des menschlichen Gedächtnisses ersetzen und
exponentiell steigern.

Was die Elektronikspezialisten und ihr Denken in den vergangenen
dreissig Jahren erfunden haben, waren nicht mehr «wissenschaftliche»
Lösungen von Problemen, sondern erste und dann immer entschlossenere
Schritte zur Umgestaltung der vertrauten Welt.

Mit der in dieser Hinsicht beispielhaften Gestalt des iPhone ist die
Metapher von der «Welt in unserer Hand» zu einer Realität geworden. Da
solche Gegenstände und Instrumente einem Denken des Bruchs entspringen,
das die Praxis des Alltags durch aktive Interventionen verändern will,
lassen sich unvorhersehbare Nebenwirkungen und vor allem schwer
kalkulierbare Risiken im selben Alltag kaum vermeiden. Vielleicht sind
mittlerweile die Furcht vor solchen Konsequenzen und die von ihr
verursachten Kosten grösser geworden als der tatsächliche Schaden und
die wahren Bedrohungen. Jedenfalls ist beständig davon die Rede, wie der
Gebrauch von Laptops und iPhones Spuren hinterlässt, die ihre
Benutzer manipulierbar und vielleicht sogar erpressbar machen; die
unmittelbare Verfügbarkeit allen Wissens könnte einen Effekt seiner
Banalisierung eingeleitet haben; die Vervollkommnung unserer
Orientierung im Raum durch Navigatoren mag die sinnliche Nähe zu den im
Raum präsenten Dingen schwächen. Nirgends ist die
risikogeladene Zweideutigkeit des neuen, durch die elektronischen
Rechner möglich gewordenen Denkens so dramatisch hervorgetreten wie in
den vor wenigen Jahren durch die «Entzifferung» des Genoms ausgelösten
Debatten. Dieser intellektuelle Durchbruch hatte das Horrorszenario
systematischer Genmanipulation zu einem nicht mehr abzuweisenden
Horizont unserer Existenz gemacht. Doch zugleich eröffnete er, wie der
Zeitdiagnostiker Peter Sloterdijk zu Recht betonte, den Traum von der
«Produktion» einer moralisch besseren Menschheit.

Gerade in der Produktion von unerwünschten Nebeneffekten oder Risiken
unterscheidet sich die – beständiger Kritik ausgesetzte – Arbeit
der Ingenieure allerdings gerade nicht von den – noch immer in der
asketischen Aura ihres intellektuellen Höchstprestiges stehenden
– Naturwissenschaften. Immerhin hat uns die Nuklearphysik als ihre
Königsdisziplin die nie mehr eliminierbare Möglichkeit einer
kollektiven Selbstzerstörung der Menschheit durch die Detonation der
heute gehorteten Atomsprengköpfe eingebracht.

Und die Geisteswissenschaften?

Wirklich verschieden ist das neue Ingenieursdenken aber vor allem in
seinem Stil gegenüber dem Denken der Naturwissenschafter, wie sehr
schnell deutlich wird, wenn man einen Programmierspezialisten unserer
Gegenwart dazu bringt, den Prozess seiner kreativen Arbeit zu
beschreiben. Die wissenschaftliche Stringenz immanenter Logiken oder
Methodologien liegt ihm offenbar fern. Erfolgreich schreibe
elektronische Codes allein, so erfährt man von den Praktikern, wer
seinen individuellen, weder begrifflich noch mathematisch fassbaren
Intuitionen vertraue. Denn offenbar entsteht am Anfang einer jeden
Aufgabe, die man sich in dieser Dimension stellt, der Anschein einer
Überkomplexität von Verfahrensmöglichkeiten, die in rein rationaler
Weise nicht zu reduzieren oder gar produktiv zu verarbeiten ist. Zu
produktiven Lösungen führen allein idiosynkratische Wege, wie
sie erfolgreichen Programmierern immer wieder einfallen – und ihren
weniger talentierten Kollegen eben nur selten.

Die Denkform von Ingenieuren und Designern liesse sich deshalb als
«Kontemplation» beschreiben, das heisst als eine fokussierte und
zugleich entspannte Konzentration, die offen für das Unerwartete der
eigenen Intuitionen und das unerwartete Andere ist. Kontemplation, das
wissen wir aus der Tradition der Mystik, vollzieht sich am produktivsten
in der Nähe zur Imagination, also in der Nähe zu Bildern und Visionen,
die aus körperlicher Vertrautheit mit der Welt (eher denn aus abstrakten
Begriffen) entspringen. Kontemplation und Imagination schliesslich
gedeihen am besten unter der Rahmenbedingung einer Kopräsenz
verschiedener Denkformen in wechselseitiger Offenheit – was genau es so
schwer macht, die spezifischen Durchbrüche des riskanten Denkens je
einzelnen Denkern zuzuschreiben.

Es mag wie ein Paradox wirken, dass der Stil des Denkens unserer
Gegenwart, genauer: der Denkstil unter den neuen Ingenieuren,
ausgerechnet an klassische Darstellungen des geisteswissenschaftlichen
Denkens erinnert, etwa an einige Passagen aus Wilhelm von Humboldts
Notizen für die Gründung von «höheren wissenschaftlichen Anstalten zu
Berlin» aus den Jahren 1809/1810. Doch dieser Eindruck konvergiert nur
mit einer sich verstärkenden Tendenz der neuen Technologien und
Industrien, gerade geisteswissenschaftlich gebildeten Bewerbern Stellen
anzubieten. Unter den College-Absolventen der Stanford University hat
Silicon Valley in den vergangenen Jahre tatsächlich nicht mehr Studenten
aus den Ingenieursfächern eingestellt als aus der Philosophie,
Geschichte oder Literatur.

Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor für Literatur an der
Stanford University und Gastprofessor am Collège de France.