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Article from today’s daily brexit briefing by the Financial Times: "Suddenly everybody wants to become a German" – the FT does not allow articles to be cut and paste via email but the hyperlink given should allow you to view the full article which repeats a message printed in last week’s Der Spiegel:

 

Vorsorge für den Brexit  Von Christoph Scheuermann, London

Der Spiegel Online: Samstag, 15.10.2016   19:45 Uhr

 

Lilian Levy war vier Jahre alt, als sie in das KZ von Bergen-Belsen kam. In ihrer Erinnerung blitzen riesige Hunde auf, Lederstiefel von Wachleuten, hölzerne Etagenbetten und ungenießbares Essen. Die Bilder in ihrem Kopf sind grau, als hätte jemand die Farbe aus der Welt gesaugt, und so war es in gewisser Weise auch. Sie stand am Bett ihrer Mutter, als diese an den Folgen von Unterernährung starb. Ihr Vater kam ebenfalls im Lager ums Leben. Die Nazis machten sie zum Waisenmädchen.

 

Heute ist Lilian Levy eine Dame von 77 Jahren, die mit geradem Rücken auf ihrem Sofa im Norden Londons sitzt. Sie erzählt von ihrer Kindheit mit der klaren, selbstbewussten Stimme einer Frau, die dem Tod nur knapp entkam. Nach dem Krieg wurde sie in einem holländischen Waisenheim untergebracht, bevor sie zu ihrer Tante reisen konnte, die in London lebte. Später wurde sie von einer jüdischen Familie adoptiert, die aus Berlin in die britische Hauptstadt geflohen war. "Es dauerte viele Jahre, bis ich mich traute, wieder deutschen Boden zu betreten", sagt sie.

 

Levy hat einen Sohn und eine Tochter, Andrew und Hilary. Beide sind gerade dabei, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, wegen des Brexit-Votums im Juni. Levys Kinder können sich mit ihrem Antrag auf das Grundgesetz der Bundesrepublik berufen. Artikel 116 ermöglicht es Deutschen, denen zwischen 1933 und 1945 die Staatsbürgerschaft aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen wurde, ein Gesuch auf Wiedereinbürgerung zu stellen. Das gilt auch für deren Nachkommen. Ein Zeitlimit sieht das Gesetz nicht vor.

 

In den Wochen nach dem EU-Referendum wurde die deutsche Botschaft in London mit Anträgen von Hinterbliebenen der Geflohenen geradezu überschüttet. Auf der Webseite warnt die Visastelle vor längeren Wartezeiten, weil die Zahl der Anträge seit dem Brexit-Votum enorm gestiegen ist. Hunderte Anrufer wollten wissen, welche Unterlagen einzureichen seien. Allein in den Monaten Juli, August und September dieses Jahr beantragten nach Angaben des Bundesverwaltungsamts, das diese Anfragen bearbeitet, 236 britische Juden einen deutschen Pass nach Artikel 116. Das sind mehr als fünf Mal so viele wie im gesamten Jahr 2015.

 

Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende interessieren sich so viele Nachfahren von jüdischen Emigranten wie nie zuvor für einen deutschen Pass. Schon das ist ungewöhnlich. Denn viele Juden der ersten Generation, die in Großbritannien Zuflucht fanden, hielten sich von Deutschland lange fern. Zu konkret war der Schrecken noch, zu traumatisch die Erinnerungen an die Nazizeit. Die Skepsis der Überlebenden gegenüber der Bundesrepublik sickerte in die nachfolgenden Generationen. Ausgerechnet der Brexit könnte nun die Nachkommen der Emigranten und den deutschen Staat einander näherbringen, selbst wenn ein Pass nur ein Stück Papier ist.

 

Andrew Levy sagt, die Entscheidung, sich für den deutschen Pass zu bewerben, sei ihm leichtgefallen. Er ist 52, lebt ebenfalls in Nord-London und unterrichtet Jura. Als er in den Achtzigerjahren mit Anfang 20 mit einem Interrail-Ticket durch Europa fuhr, mied er Deutschland wie ein Gefahrengebiet. Inzwischen reist er regelmäßig in die frühere Heimat seiner Eltern, einmal im Jahr besucht er eine Bibelkonferenz in Osnabrück. Deutschland gefällt ihm. Das Land hat sich verändert. "Die junge Generation trägt keine Schuld an dem, was damals geschehen ist", sagt er.

 

Für seine Familie war das Brexit-Votum ein Schock, genau wie für den Großteil der jüdischen Gemeinde in London. "Juden sind überaus kosmopolitische Leute", sagt Stuart Altshuler, Rabbiner in der Belsize Square Synagoge. "Sie reagieren empfindlicher auf Engstirnigkeit."

 

Schätzungen zufolge siedelten sich zwischen 60.000 und 70.000 jüdische Flüchtlinge nach dem Krieg in Großbritannien an. Etliche von ihnen besuchten die Synagoge am Belsize Park. Im Moment herrsche in der Gemeinde vor allem Unsicherheit, sagt Altshuler, wie die Verhandlungen mit der EU ausgingen.

Andrew Levy sagt, er habe sich in den Tagen dem Votum am 23. Juni gefühlt, als sei ihm ein Teil seiner Identität geraubt worden, als nehme ihm jemand gewaltsam seine europäische, weltoffene Haltung. Seine Schwester Hilary sieht das ähnlich. Sie will mit ihren beiden Kindern ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

 

Die steigende Nachfrage nach europäischen Pässen hängt auch mit dem harten Kurs der Regierung von Premierministerin Theresa May zusammen. May lässt keine Zweifel erkennen, dass der Brexit kommen wird. Zunächst wollte sie nicht einmal jenen EU-Bürgern, die bereits im Königreich leben, eine Aufenthaltsgarantie geben. Zwar zögert sie das förmliche Austrittsgesuch nach Artikel 50 des EU-Vertrags hinaus, vermutlich bis Anfang nächsten Jahres; zudem ist noch nicht erkennbar, wie das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien aussehen wird. Aber dass es zum Austritt kommt, bezweifelt in London niemand mehr. Die Frage ist, wie hart der Bruch mit dem Rest Europas sein wird.

 

Einerseits muss May es fertigbringen, die Zahl der neuen Einwanderer zu senken - eines der zentralen Themen im Brexit-Wahlkampf. Andererseits muss sie vermeiden, der britischen Wirtschaft zu schaden, indem sie die Grenzen für Europäer komplett schließt und damit Arbeitskräfte fernhält. Das betrifft neben Saisonarbeitern in der Landwirtschaft vor allem das Londoner Bankenviertel. Die City setzt im Moment alles daran, die Folgen des Austritts möglichst gut zu dämpfen.

 

Im Gespräch sind derzeit spezielle Visa für die Finanzbranche, die von einer Einwanderungsbremse ausgenommen wäre. Diskutiert wird auch, eine Aufenthaltserlaubnis künftig an den Nachweis einer Arbeitsstelle zu koppeln. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan fordert eigene Visa für die Hauptstadt, um die Einreise zu vereinfachen. London profitiert wie keine zweite britische Stadt von Einwanderern. Die Metropole würde entsprechend unter einem harten Brexit auch am meisten leiden.

Theresa May steht vor der Quadratur des Kreises. Sie muss die Brexit-Hardliner in der konservativen Partei befriedigen, darf aber die City nicht verschrecken, die dem Staat jedes Jahr Milliarden in die Kassen spült. Es wird Monate dauern, bis überhaupt in Umrissen klar ist, welche Ziele die Regierung verfolgt. Der Brexit-Minister David Davis nennt die Austrittsgespräche mit der EU die "wohl schwierigsten Verhandlungen aller Zeiten". Es zählt zu den vielen ungelösten Rätseln der Brexit-Kämpfer, wie sie trotzdem behaupten können, all das ließe sich in zwei Jahren abwickeln.

 

Vor allem jüngere Briten sehen die zweite Staatsbürgerschaft als Chance, dem Gerangel um Aufenthaltsgenehmigungen in der EU zu entkommen. Rachel Pilling hat sich ebenfalls um einen deutschen Pass beworben. Ihre jüdische Großmutter floh 1936 aus Deutschland. Pilling ist 27 und arbeitet als Ärztin in London. Sie könne sich gut vorstellen, in einem anderen europäischen Land zu leben, sagt sie. Nach dem Brexit wäre das wohl schwieriger mit einem britischen Pass. Gleichzeitig wollen sieben weitere Mitglieder ihrer Familie die Staatsbürgerschaft beantragen. Ihr jüngerer Bruder möchte sich die Möglichkeit offenhalten, auf dem Kontinent zu studieren.

 

Unterdessen bereitet die britische Regierung ihre Bürger auf Einreisegebühren in die EU vor, ähnlich wie in den USA. Schon deshalb könnte sich der Zweitpass lohnen. Aus ähnlichen Gründen bewerben sich irischstämmige Briten um die irische Staatsbürgerschaft. Die Zahl der Anträge bei der irischen Vertretung in London ist seit Ende Juni um 70 Prozent gestiegen.

Die meisten Nachfahren jüdischer Emigranten wollen den Zweitpass aus praktischen Gründen und nicht, weil sie auswandern möchten. Trotzdem fällt nicht allen die Entscheidung leicht. Der Londoner Autor Thomas Harding sagt, seine Familie habe zunächst gezögert, den Antrag auf Wiedereinbürgerung zu stellen.

Hardings Großmutter Elsie floh 1936 nach England. Vier seiner Verwandten wurden in Auschwitz ermordet. Als Harding seinem Vater von dem Plan berichtete, den Pass zu beantragen, habe sein Vater geantwortet: "Elsie würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüsste!" Inzwischen denkt Hardings Familie abgeklärter. Seine Verwandten hätten eingesehen, dass es sinnvoll und vernünftig ist, nach dem Brexit einen deutschen Pass zu besitzen.

Auch Lilian Levy hat mit Deutschland ihren Frieden gemacht. Es war ein schwieriger und langer Prozess. Als sie in den Sechzigerjahren erstmals seit Kriegsende wieder deutschen Boden betrat, blickte sie skeptisch in die Gesichter der Menschen. Die Skepsis hat sich gelegt. "Ich fühle mich manchmal sogar wohl, wenn ich nach Deutschland reise." Den deutschen Pass will sie trotzdem nicht. Sie sagt, das wäre ein Schritt zu weit.

Zum Autor: Christoph Scheuermann  ist SPIEGEL-Korrespondent in London. E-Mail: [log in to unmask]