Print

Print


Two articles from tomorrow's Süddeutsche Zeitung on the "Thema des Tages, 23.06.2016": Wahlkampf 

Wenn Männer Lachse küssen
=========================
Von Christian Zaschke

David Cameron ist kein großer Freund von Arbeit am sehr frühen Morgen. Der britische Premierminister lässt den Tag gerne ruhig angehen, er gönnt sich morgens ein wenig Zeit mit seiner Familie. Am Mittwoch aber machte er eine Ausnahme. Zunächst sprach er im Frühprogramm des BBC-Radios, anschließend fuhr er mit dem früheren Premier John Major und der ehemaligen Labour-Chefin Harriet Harman nach Bristol, um gemeinsam dafür zu werben, dass die Briten sich in der Volksabstimmung an diesem Donnerstag für den Verbleib in der EU entscheiden.

Den ganzen Tag über war Cameron im Land unterwegs, um die letzten noch unentschiedenen Wähler zu überzeugen. Die Umfragen zeigen: Es wird vermutlich knapp. Jede Stimme könnte zählen.

Entsprechend zeitig waren auch die Gegner der Mitgliedschaft unterwegs. Der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, ohnehin Frühaufsteher, zeigte sich im Licht der Dämmerung am Billingsgate-Fischmarkt in Ost-London. Dort erläuterte er, dass Großbritannien zum Wohle der Fisch-Industrie aus der EU austreten müsse und küsste für die Fotografen einen Wildlachs.

Gefragt, wie es war, den Lachs zu küssen, sagte Johnson, er habe in Australien schon einmal ein Krokodil geküsst. Damit war ihm gewohnt mühelos der Übergang zum Thema Immigration gelungen, denn Australien, führte er aus, sei ein Vorbild mit seiner Einwanderungspolitik, die auf einem Punktesystem basiert. Zwar hat Johnson in der Vergangenheit gesagt, das australische System sei für Großbritannien nicht geeignet, doch er hat seine Meinung geändert.

Der heimliche Star der Brexit-Gegner ist eine konservative Schottin
-------------------------------------------------------------------

Die Einwanderung war auch das beherrschende Thema der letzten großen Fernsehdebatte, die am Mittwochabend in der Londoner Wembley-Arena stattfand. 6000 Zuschauer waren gekommen, um den Argumenten für und wider die Mitgliedschaft in der EU zu lauschen. Johnsons Nachfolger als Londoner Bürgermeister, der Labour-Politiker Sadiq Khan, warf den EU-Gegnern vor, mit ihrer Anti-Immigrationsrhetorik das "Projekt Hass" zu betreiben. Johnson sagte, er sei für Einwanderung, aber eben für eine kontrollierte. In seiner Abschlussrede rief er, dieser Donnerstag könne "unser Unabhängigkeitstag" werden, was von der Hälfte der Zuschauer ausdauernd bejubelt wurde. Johnson zeigte erneut, dass er der mit Abstand charismatischste und effektivste Redner unter den EU-Gegnern ist.

Heimlicher Star der TV-Debatte war allerdings die Chefin der schottischen Konservativen, die 37 Jahre alte Ruth Davidson. Außerhalb Schottlands war sie bisher kaum in Erscheinung getreten, es war ihr erster Auftritt auf der ganz großen Bühne. Wieder und wieder übernahm sie die Initiative, sie machte sich über Johnson lustig, wenn dieser sich mal wieder nicht allzu genau an die Fakten hielt, sie sprach mit so viel Wucht und Verve, dass der Buchmacher William Hill die Quoten auf die Wette senkte, dass Davidson eines Tages Chefin der gesamtbritischen Konservativen Partei wird. Das war umso bemerkenswerter, als Johnson und Davidson Parteifreunde sind, und es Johnson ist, der den Parteivorsitz fest im Blick hat.

Der Justizminister? Ist wohl durchgedreht, sagt der Premier
===========================================================

Was den EU-Gegnern in den vergangenen Tagen am meisten zu schaffen machte, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der Experten von einem Austritt abrät. Unter anderem haben der Internationale Währungsfonds, die Bank von England sowie zehn Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften vor den ökonomischen Folgen gewarnt.

Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party, wies die Warnungen am Mittwoch mit dem Hinweis zurück, dies sei lediglich die Ansicht der Eliten; es handele sich bei der Abstimmung über die EU um den "Kampf des Volkes gegen das Establishment". Zuvor hatte er stets vom "Kampf gegen die politische Klasse" gesprochen; diese Formulierung hat er nach dem Mord an der EU-freundlichen Abgeordneten Jo Cox in der vergangenen Woche jedoch geändert. Gefragt, wo er seine politische Zukunft sehe, falls die Mehrheit sich für die Mitgliedschaft in der EU entscheide, sagte er: "Fragen Sie einen General, der in die Schlacht zieht, nicht, was er danach vorhat. Es wird knapp, aber ich gehe davon aus, dass wir gewinnen."

Eine der krudesten Thesen des gesamten Wahlkampfs präsentierte derweil Justizminister Michael Gove, einer der führenden EU-Gegner der Konservativen. In einem Radio-Interview erläuterte er, sogenannte Experten lägen nicht immer richtig. Das zeige sich zum Beispiel daran, wie deutsche Wissenschaftler in den 1930er- Jahren gegen Albert Einsteins Theorien gehetzt hätten, weil dieser Jude war. Sie seien von der Nazi-Regierung bezahlt worden, um die Unwahrheit über Einsteins Arbeit zu sagen.

Cameron, der vor dem Wahlkampf eng mit Gove befreundet war, merkte am Mittwoch an, die Äußerung sei ein "massiver Fehler" gewesen. Gove sei jetzt wohl "durchgedreht". Der Minister entschuldigte sich im Laufe des Tages für seine, wie er sagte, "ungeschickten und unangemessenen Aussagen".

Die Brexit-Befürworter hoffen auf schlechtes Wetter
---------------------------------------------------

Der Ton in dieser seit Wochen äußerst intensiv geführten Debatte blieb bis zuletzt schrill. 46,5 Millionen wahlberechtigte Einwohner des Vereinigten Königreichs sind nun zur Abstimmung aufgerufen, um über die Zukunft ihres Landes und damit mittelbar auch der Europäischen Union zu entscheiden.

Für Donnerstag sagen Meteorologen schwere Regenfälle und Gewitter voraus in weiten Teilen der britischen Inseln. Das könnte den Brexit-Befürwortern helfen, weil Meinungsforscher erwarten, dass schlechtes Wetter sie jedenfalls kaum vom Gang zum Wahllokal abhalten würde. Die sind an diesem Donnerstag bis 22 Uhr geöffnet (23 Uhr deutsche Zeit). Zu diesem Zeitpunkt werden die jüngsten Umfragen veröffentlicht, es gibt jedoch, anders als bei Parlamentswahlen, keine offizielle Prognose.

Erste Ergebnisse sollen gegen Mitternacht eintreffen. Wie es ausgegangen ist, wird sich am frühen Freitagmorgen abzeichnen. Es ist fest davon auszugehen, dass David Cameron erneut eine Ausnahme von seiner sonst so ruhigen morgendlichen Routine macht.

--------

Ein interessanter Artikel aus der App der Süddeutschen Zeitung:

Thema des Tages, 23.06.2016 

Wirtschaft 

Wetten, dass . . . 
================== 

Von Björn Finke 

Zumindest einer Branche in Großbritannien beschert das EU-Referendum glänzende Geschäfte: den Wettbüros. Matthew Shaddick, Manager beim börsennotierten Buchmacher-Konzern Ladbrokes, sagt, für Wetten zum Ausgang der Volksabstimmung seien insgesamt 100 Millionen Pfund bei seinem Unternehmen und den Konkurrenten gesetzt worden. Mehr als beim schottischen Unabhängigkeits-Referendum oder den Parlamentswahlen 2015. Es sei das "größte politische Wett-Ereignis aller Zeiten". 

Das meiste Geld setzen Kunden auf einen Verbleib des Königreichs in der EU. Käme es so, wären viele Unternehmer und Manager in Großbritannien erleichtert. Denn die Mehrheit im Wirtschaftslager fürchtet einen Brexit, den Austritt aus der Union, die der größte Exportmarkt für britische Firmen ist. Volkswirte erwarten, dass ein Sieg des Brexit-Lagers die Konjunktur belasten würde, das britische Pfund würde sofort an Wert verlieren. Schatzkanzler George Osborne drohte bereits mit Steuererhöhungen, sollte solch ein Abschwung die Steuereinnahmen mindern. 

Wirtschaftsverbände und viele Unternehmer werben deshalb dafür, dass die Bürger für den Verbleib stimmen. Am Mittwoch veröffentlichte die Zeitung Times einen offenen Brief, in dem 1285 Manager großer und kleiner Firmen vor den Folgen eines Austritts warnen: mehr Unsicherheit, weniger Handel mit Europa, weniger Jobs. Zu den Unterzeichnern gehören neben den Chefs von Burberry, Vodafone, Shell und BP auch Richard Branson, Gründer des Virgin-Imperiums, Jürgen Maier, Statthalter von Siemens auf der Insel, oder BMW-Vorstand Ian Robertson. 

In der gleichen Ausgabe der Zeitung ist allerdings auch ein Gastbeitrag von James Dyson zu lesen, Milliardär und Erfinder des beutellosen Staubsaugers. Dyson ist prominentester Vertreter der kleinen, aber lautstarken Minderheit im Unternehmerlager, die für den Brexit trommelt. Der Tüftler schreibt, er habe 25 Jahre lang Erfahrungen im Umgang mit EU-Gremien gesammelt und sei zu dem Schluss gekommen, dass Großbritannien "überhaupt keinen Einfluss" auf EU-Gesetze habe. 

In einem Interview sagte Dyson einmal, er wolle raus aus der Union, weil die EU "von Deutschland dominiert" werde. Zu den Unterstützern eines Brexit gehören außerdem zahlreiche Manager von Hedge-Fonds, also von spekulativen Investmentfonds. Sie klagen über zu viel Regulierung aus Brüssel. Die große Mehrheit am Finanzplatz London unterstützt jedoch die Kampagne zum Verbleib in der EU. Viele Banken kümmern sich von der Themse aus um Kunden in ganz Europa. Das könnte nach einem Austritt schwieriger werden. US-Institute wie Goldman Sachs und JP Morgan kündigten an, nach einer Scheidung Tausende Jobs aus London in Euro-Staaten zu verlagern. Die Deutsche Bank richtete eine Arbeitsgruppe zu dem Thema ein. 

Gewinnt das Brexit-Lager das Referendum, bleibt Großbritannien zunächst in der EU. Die Regierung wird Gespräche mit Brüssel über die Trennung und die Beziehungen nach dem Austritt beginnen. Direkt ändert sich also nichts für die Unternehmen. Bis die Verhandlungen zwischen Brüssel und London abgeschlossen sind, wissen Manager aber nicht, welchen Bedingungen die Geschäfte über den Ärmelkanal in Zukunft unterliegen werden. 

Der gemeinsame Binnenmarkt der EU ermöglicht es, Produkte in allen Mitgliedstaaten zu verkaufen, ohne sie extra in jedem Land zulassen zu müssen. Diesen Vorteil könnten britische Firmen verlieren. Und da Manager Ungewissheit hassen, würden sie Investitionen aufschieben, erwarten Ökonomen. Das bremst das Wachstum und kostet Jobs. Die Unsicherheit würde auch Anleger verschrecken, schätzen Analysten. Kurse britischer Aktien und die Notierung des Pfund würden fallen. 

Zahlreiche Briten sorgen offenbar vor: Das Post Office - das ist so etwas wie die Postbank von Großbritannien - berichtet, Kunden fragten seit dem Wochenende ungewöhnlich stark Devisen nach. Die Summe sei um 74 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, heißt es. Die Interessenten wollen für ihre Pfund Euro und Dollar haben. Das sichert sie gegen einen Wertverlust des Pfund ab. 

Britische Banken stockten ihre Bargeldbestände auf, um gewappnet zu sein, falls nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses Kunden ihre Konten leerräumen wollen. Die Bank of England, die Notenbank des Königreichs, hält die Geldinstitute dazu an, ähnlich wie vor dem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit. Zentralbank-Chef Mark Carney warnt, ein Austritt stelle eines der größten Risiken für die Stabilität des britischen Finanzsystems dar; für diese Aussage wurde er von den Brexit-Befürwortern scharf kritisiert. Doch auch Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, und Janet Yellen von der US-Notenbank Fed bezeichnen einen Sieg des Austritts-Lagers als Risiko für die Wirtschaft. Beide versichern, vorbereitet zu sein. Das soll beruhigen. 


Björn Finke 
=========== 
Geboren 1976 in Düsseldorf, Studium der Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität zu Köln und der London School of Economics and Political Science (Abschluss 2002 als Master of Science in European Social Policy), danach Besuch eines Graduiertenkollegs der Universität Bremen. Außerdem Absolvent der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft, seit 2004 bei der Süddeutschen Zeitung in München und seit 2013 SZ-Wirtschaftskorrespondent in London. 



Henrike Lähnemann * St Edmund Hall, Queen's Lane, GB -  OX1 4AR * Office: 41 Wellington Square, OX1 2JF[log in to unmask], phone 0044 1865 270498 * English mobile 0044 7895141502 * Deutscher Festnetzanschluss 004976115523500