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Dieser Artikel wird Ihnen empfohlen: http://www.nzz.ch/feuilleton/brexit-und-die-britische-kultur-verbannt-auf-die-nebenbuehne-ld.85480 © Neue Zürcher Zeitung AG - Alle Rechte vorbehalten

Brexit und die britische Kultur: Verbannt auf die Nebenbühne?

von Marion Löhndorf 30.5.2016, 05:00 Uhr

Ein Austritt aus der EU hätte für die britische Kulturindustrie weitreichende Folgen. Welche Szenarien würden sich auftun, wenn es zum Brexit käme?

Sie schafften es bis auf die Titelseite des «Guardian». Unter der Überschrift «The In-Crowd» räumte die linksliberale Tageszeitung unlängst auf ihrer ersten Seite die Bühne frei für fast 300 Kulturschaffende, die sich in einem offenen Brief für den Verbleib in der EU ausgesprochen hatten. Die Liste der Unterzeichnenden liest sich wie ein Who's who des englischen Kulturlebens. Zu den Unterzeichnern gehören die Schauspieler Benedict Cumberbatch, Keira Knightley, Helena Bonham Carter, Bill Nighy, John Hurt, Jude Law, Chiwetel Ejiofor, Patrick Stewart, Kristin Scott Thomas, die Modeschöpferin Vivienne Westwood, Namen aus der Kunstwelt wie Anish Kapoor, Cornelia Parker, Hans Ulrich Obrist und Jay Jopling.

Wer ist «orthodox»?

In ihrem Brief bezeichnen sie das EU-Referendum als die «grösste demokratische Entscheidung unserer Zeit» mit weitreichenden Folgen. Es zwinge das Land, sich zu fragen, welche Art von Nation es sein wolle: bereit zur Zusammenarbeit mit anderen oder abgeschottet von Freunden und Nachbarn in einer Zeit wachsender globaler Unsicherheit? Für viele, heisst es in dem Schreiben, sei grenzüberschreitendes Arbeiten längst gang und gäbe. Sie befürchteten, der Brexit schwäche den weltweiten Erfolg der britischen Kultur. Ein Verbleib in der EU hingegen werde Grossbritanniens führende Rolle auf der Weltbühne stärken: «Let's not become an outsider shouting from the wings.» Unterschrieben hatten auch die Regisseure Steve McQueen, Mike Leigh, Michael Winterbottom, Katie Mitchell, Danny Boyle und Nicholas Hytner, die Schriftsteller John le Carré, Tom Stoppard, Ian McEwan und Hilary Mantel sowie Architekten wie David Chipperfield, Amanda Levete, Richard Rogers und John Pawson.

Auch der konservative «Daily Telegraph» hatte den Brief zum Abdruck erhalten, bewertete seinen Inhalt aber kritisch: Rupert Christiansen schrieb, dass er nur mit grosser Zurückhaltung und Skepsis für einen Verbleib in der EU sein könne, aus Misstrauen gegen die Brüsseler Maschinerie. Die Feier der Gleichheit und Zusammengehörigkeit, zu der sich die linke und liberale Intelligenzia mit ihrem offenen Brief bekenne, fand er orthodox und ärgerlich. Vor langer Zeit habe man einen Fetisch aus «Eklektizismus und Fusion und der Billigung kosmopolitischer Sensibilitäten» gemacht, dem man immer noch anhänge. Wer sich hingegen als Engländer oder Brite fühle und dies auch kundtue, laufe Gefahr, der Nähe zu Parteien wie der UK Independence Party (Ukip) und der British National Party (BNP) bezichtigt zu werden; und niemand, der sich für kultiviert halte, wolle als «Little Englander» bezeichnet werden. Dem Schauspieler Michael Caine und dem Musiker Roger Daltrey von The Who ist das übrigens völlig egal: Die beiden halten den Austritt aus der EU für die bessere Idee.

So verärgert wie der Kollege aus dem «Daily Telegraph» reagierte auch der Kolumnist Simon Jenkins im «Guardian». Das Argument der Künstler, dass der Brexit sie zu Aussenseitern machen würde, tat er als lächerlich ab. In Anspielung auf die hohe Anzahl von Schauspielern unter den Unterzeichnern, ironisch «Luvvies» genannt, schrieb er: «Die meisten arbeiten überwiegend in Amerika, das ausserhalb der EU-Grenzen liegt. Sie sind kaum Aussenseiter in Hollywood.» Der Brief der Schauspieler und Kulturschaffenden sei, wie ähnliche öffentliche Schreiben von Sportlern, Wissenschaftern und Unternehmern zum selben Thema, vor allem von Wirtschaftsinteressen gesteuert: «Die meisten Leute wählen mit ihren Brieftaschen.»

Fördertöpfe und Beziehungen

Der Gedanke ans Portemonnaie ist allerdings nicht unberechtigt. John Sorrell von der regierungsunabhängigen Vereinigung Creative Industries Federation erklärte, dass die Leistungen der Kulturschaffenden nicht nur wesentlich für das Image des Vereinigten Königreichs in der Welt seien, sondern auch 84,1 Milliarden Pfund zur eigenen Wirtschaft beitrügen. Laut einer Studie der Creative Industries Federation ist Europa in diesem Bereich Englands grösster Exportmarkt.

Auch Nicholas Kenyon, Managing Director des Barbican-Kulturzentrums in London, führt finanzielle Überlegungen gegen den Brexit ins Feld: EU-Gelder fliessen auch in britische Kulturprojekte und Vorhaben in Grossbritannien, etwa in die europäischen Kulturhauptstädte. Im Jahr 2008 profitierte Liverpool davon. Auch viele Filme, darunter «The King's Speech», «The Iron Lady» und «Slumdog Millionaire», wären ohne Gelder vom europäischen Festland nicht denkbar gewesen. Eine Reihe von EU-Fördertöpfen würde sich schliessen, darunter das «Creative Europe»-Programm mit seinem Milliardenbudget.

Der Direktor des Barbican, das den internationalen Austausch mit hoher Intensität pflegt, zitierte eine klassische Kooperation seines Hauses als Musterbeispiel dessen, wie er sich Kulturarbeit vorstellt: die Aufführung des griechischen Klassikers «Antigone» unter der Regie des belgischen Regisseurs Ivo van Hove mit der französischen Schauspielerin Juliette Binoche in der Titelrolle. Das Stück war ein Gemeinschaftsprojekt des Barbican mit der Toneelgroep Amsterdam in Co-Produktion mit den Theatern und Festivals in Paris, Luxemburg, Recklinghausen und Edinburgh. Über pragmatische Gegebenheiten wie die Freizügigkeit hinaus, so Kenyon, sei London ein internationaler kultureller Knotenpunkt, dessen Status sich eben gerade seinen grenzüberschreitenden Aktivitäten verdanke. Der Geschäftsführer des Londoner Royal Opera House, Alex Beard, führte weitere praktische Argumente gegen den Brexit ins Feld: Da die Mehrheit der Partner seiner Kulturinstitution Europäer seien, befürchtet er, dass Zölle, Einwanderungs- und Visabestimmungen die künftige Zusammenarbeit erschweren würden.

Doch es geht natürlich nicht nur ums Geld. Angela Kaya, die Leiterin des Goethe-Instituts in London, sieht in der Abstimmung Chancen für die Belebung des Dialogs: «Wie auch immer das Referendum am 23. Juni ausgehen wird, es wird sich anregend und auch herausfordernd auf den kulturellen Austausch und die Arbeit des Goethe-Instituts auswirken. Vielleicht ist es damit genau das Ereignis, das nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern europaweit Anlass zu wichtigen Diskursen oder Entwicklungen gibt.» Dabei sei es wichtig, das Augenmerk auf die Bruchlinien in der Gesellschaft zu richten: «Wenn bei einem signifikanten Teil der Gesellschaft Vorbehalte bestehen, müssen wir uns fragen, mit welchen Themen, Angeboten und Formaten wir diejenigen erreichen, die Europa derzeit so kritisch sehen.»

Grossbritannien ist spät in die Debatte um den Verbleib in der EU eingestiegen. Dafür aber mit einer Intensität, die auf den letzten Metern noch einmal zunimmt. Nicht zuletzt die Reaktionen der Kunstwelt auf einen möglichen Ausstieg aus der EU verdeutlichen, worauf die Diskussion eben auch - neben den hin und her gewendeten pragmatischen Argumenten - hinauslief: auf eine Selbstbefragung und Selbstvergewisserung. Etwas, was die Briten, die gern nach innen leben und denken, andererseits aber über ihre Grenzen hinauswollen, von jeher gern tun. Und Identität ist ja per se ein bewegliches Gut.

Der ferne Kontinent

Generationen von Historikern galt die Insellage als wichtigstes Charakteristikum Grossbritanniens. Man gehört dazu, aber doch irgendwie nicht. Das Verhältnis zum Festland war traditionell bewegt und oft gespannt. Auf dem Festland bezieht man mit grosser Selbstverständlichkeit das Vereinigte Königreich ein, wenn man von Europa spricht. Umgekehrt aber wird das Wort Europa in England oft so verwendet, als spräche man von einem fernen Kontinent. Der britische Blick war über einen grossen Zeitraum hinweg weniger nach Europa als vielmehr in Richtung USA gewendet. Jetzt also ist man gezwungen, das Spannungsverhältnis zu Europa ganz genau zu betrachten und dazu Stellung zu beziehen. Und auch wenn die Idee der «splendid isolation» in England lange attraktiv erschien, stammt doch auch der gegenläufige Gedanke ausgerechnet aus der Feder eines englischen Dichters. John Donne schrieb 1623 in seinen «Devotions upon Emergent Occasions» den berühmt gewordenen Satz: «Niemand ist eine Insel.»