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Aus der heutigen Süddeutschen Zeitung: Londoner Tagung 

Von Alexander Menden 


Nur einmal wechselt David McAllister ins Deutsche, um einen bereits in (schottisch gefärbtem) Englisch vorgetragenen Appell zu wiederholen: "Bitte, bleibt bei uns!" "Wir", das ist die Europäische Union, und angesprochen sind natürlich die Briten im Saal. Deren Mitgliedschaft im europäischen Staatenbund ist eine wackelige Angelegenheit. Und da der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident McAllister zwar als deutscher Teilnehmer zur Konferenz nach London gekommen, aber auch britischer Staatsbürger ist, darf man ihm die Dringlichkeit der Bitte abnehmen.

Chatham House, die Mutter aller Think-Tanks, hat ins British Museum geladen, um einen Tag lang über Deutschland zu sprechen. Der Title "A reluctant Leader? Germany in the 21st Century" stellt klar, in welcher Rolle Deutschland von vielen gesehen wird - und thematisiert zugleich, wie schwer es sich mit dieser Führungsposition tut. Ein paar Stockwerke weiter oben gelingt es der "Germany"-Ausstellung derzeit ziemlich gut, dem britischen Publikum die komplizierte deutsche Geschichte zu vermitteln (SZ vom 14.10.). Bei der Chatham-House-Konferenz kann man nicht nur lernen, wie aus britischer Sicht die deutsche Gegenwart aussieht, sondern auch, in welchem Maße Deutschland in der britischen Wahrnehmung Frankreich als maßgeblichen Gesprächspartner im Dialog mit der EU abgelöst hat.

Deutschland war das Thema der Zusammenkunft, aber meist ging es dann doch um England
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Der konservative Westminster-Parlamentarier David Willets etwa beschreibt, wie sich bei Treffen des EU-Rats stets Stille über den Raum lege, wenn der deutsche Vertreter das Wort ergreife: "Alle hören ganz genau zu, weil sie wissen, dass hier die Position formuliert wird, die später die Agenda prägen wird." Die "kleineren Staaten", die sich nicht trauten zu widersprechen, bedankten sich später immer bei den wenigen - darunter natürlich die Briten - die das für sie übernähmen. Seinem Ruf als Tory-Vorzeigeintellektueller wird Willets dann noch mit der Bemerkung gerecht, Deutschland erfülle mit seinen Exportüberschüssen und strengen Sparvorgaben "keinesfalls Immanuel Kants Universalisierungsanspruch".

Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, formuliert in der nächsten Gesprächsrunde die deutsche Haltung zu diesem Problem: "Wir zwingen niemanden, unsere Küchen und Autos zu kaufen. Aber die Chinesen rufen immer wieder an, sie wollen unsere Produkte, und deshalb produzieren wir sie." Martin Wolf, Chefkommentator der Financial Times, vertritt demgegenüber die klassische anglo-amerikanische Ansicht, dass nur durch einen steigenden Binnenverbrauch in Deutschland und der EU eine Reihe weiterer Rezessionen im Euro-Raum zu verhindern sei.

Das sind hinreichend bekannte Positionen. Spannender wird die Debatte, wenn es um das Thema Vergangenheitsbewältigung geht. Besonders aufschlussreich ist hier ein Austausch zwischen Mary Fullbrook, Londoner Professorin für Deutsche Geschichte, und Neil MacGregor, dem Direktor des British Museum, der die "Germany"-Ausstellung mitkuratierte. Fullbrook erklärt Berlin mit seinen zahlreichen Mahnmalen zur "Welthauptstadt obsessiver Erinnerung". Dabei sei es zum Standard geworden, sich mit den Opfern zu identifizieren und sich nur auf einige besonders monströse Figuren als Täter zu konzentrieren. So werde die Mitschuld der Gesamtbevölkerung ausgeblendet. MacGregor hält dagegen, dass es schwer sei, dem Täterphänomen in Form eines Mahnmals gerecht zu werden. Zudem sei die Erinnerungskultur in Großbritannien ebenso obsessiv wie in Deutschland: "Mit dem Unterschied, dass bei uns, wie in Frankreich und Amerika, die Erinnerung eine distanzierende und ästhetisierende ist." Ein Paradebeispiel für dieses Geschichtsbild, das im Blick auf die Vergangenheit vor allem Trost für die Gegenwart suche, nennt er Danny Boyles olympische Eröffnungszeremonie vor zwei Jahren in London. Lord Stephen Green, ehemaliger Verwaltungsratschef der Bank HSBC und bis 2013 Handelsminister unter David Cameron, wirft ein, dass Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Vorbild vielleicht auch Großbritannien selbst im Zusammenhang mit seiner imperialen Historie und dem "irischen Debakel" gut täte.

Der Oxforder Historiker Timothy Garton Ash bescheinigt den Deutschen eine "recht entspannte" Haltung zu ihrer eigenen Nationalität - sie hätten Nietzsches Verdikt widerlegt, demzufolge die Frage, was Deutsch sei, nie aussterbe: "Nun sind wir Briten es, die nach unserer Identität suchen. Es sind ja nicht die Bayern, die ein Unabhängigkeitsreferendum organisiert haben, sondern die Schotten." So kommt die Debatte letztlich immer wieder zurück auf die Selbstwahrnehmung Englands, sowohl als verunsicherter Hegemon im britischen Konstrukt als auch in seiner zunehmend distanzierten Haltung zum europäischen Projekt. Die Konferenz hätte ebenso gut "A reluctant Member" ("Ein widerstrebendes Mitglied") heißen können, schlägt ein Journalist des Independent bei einer Fragestunde vor und fügt hinzu: "Die begleitende Ausstellung mit dem Titel 'Die Geschichte der Begeisterung britischer Konservativer für Europa' wäre sicher die übersichtlichste, die das British Museum je ausgerichtet hat."

Alexander Menden
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Geboren 1972 in Bonn. Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Bonn und Oxford. Aufbaustudium Theater-, Film- und Fernsehkritik in München. Seit Mitte der neunziger Jahre freier Mitarbeiter im Lokalteil des Bonner Generalanzeigers. Texte für Stuttgarter Zeitung, Vogue und Architectural Digest. Seit Frühjahr 2001 Autor der Süddeutschen Zeitung im Feuilleton sowie für das "Streiflicht".