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Dear colleagues,
you might be interested in the following review related to a recent German 
book publication on Christoph Ransmayrs works.

Best wishes
Holger Mosebach


MARKUS OLIVER SPITZ: Erfundene Welten – Modelle der Wirklichkeit. Zum Werk 
von Christoph Ransmayr. Epistemata Würzburger Wissenschaftliche Schriften 
524. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. S. 200. ISBN: 3-8260-2962-3

Unter der poetologischen Formel "Erfindung der Welt" werden die imaginären 
Romanwelten Christoph Ransmayrs vom Autor selbst theoretisch fundiert. In 
ihnen vermag der Leser zwar Bekanntes wiederfinden, aber im Ganzen gesehen 
erfüllt sich darin kein die Wirklichkeit widerspiegelndes 
Deckungsverhältnis. Gefährlich ist es daher, vage Angedeutetes als Fakt 
auszugeben und Antizipiertes in den Rang einer eindeutigen Verweisstruktur 
zu erheben. Insofern aber der fiktionale Roman in Korrespondenz mit seiner 
außertextlichen Wirklichkeit tritt, vermag er diese in seiner verfremdeten 
Form zu kommentieren. Dieses Prinzip wendet Ransmayr in seinen drei bisher 
erschienenen Romanen sowie einer Erzählung an und verführt den Leser in 
einen Zwischenraum, der Zeichen aus einer erfundenen Welt beinhaltet, aber 
auch Zeichen seiner als real erfahrenen Welt im Leser evoziert.
      Markus Oliver Spitz bereichert mit seiner Dissertation die bisherige 
Ransmayr-Forschung, indem er dieses poetologische Prinzip der "Erfindung 
der Welt" und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit unter Berücksichtigung eines 
hermeneutischen Ansatzes untersucht. Da diese literaturwissenschaftliche 
Methode seit geraumer Zeit unter dem Verdacht des Altmodischen steht, 
grenzt er diese sogleich gegen poststrukturalistische, also postmoderne 
Ansätze ab. Als zweiten methodischen Strang nimmt er Ansätze der 
Rezeptionstheorie Wolfgang Isers zu Hilfe. Ihr Ausgangspunkt sind die 
Leerstellen im Text, bei denen Erfundenes und Wirklichkeit nicht mehr zu 
Deckung kommt, denn sie obliegen der Deutungshoheit des jeweiligen Lesers. 
Nur so gewinnt der Text seine differenzierte Aussage und beugt einfachen, 
stereotypen Interpretationen vor. Vor allem argumentiert Spitz aber gegen 
die gängige Einschätzung, bei Ransmayr handele es sich um einen Autor 
typisch postmoderner Texte. So ergibt sich aus der Rechtfertigung für den 
'Rückgriff' auf die Hermeneutik der erwünschte Nebeneffekt, die Modernität 
des poetologischen Programms Ransmayrs herauszustreichen.
      Obgleich er auch alle anderen fiktionalen Texte sowie das Drama Die 
Unsichtbare und einige journalistischen Arbeiten mit in die Interpretation 
einbezieht, legt Spitz in seiner Analyse den Schwerpunkt auf den zuletzt 
publizierten Roman Ransmayrs, Morbus Kitahara (1995). Die Gründe, die Spitz 
für diese ungleiche Bewertung des Werkes anführt, lassen allerdings Fragen 
offen. Die Tatsache, dass es sich bei Morbus Kitahara um einen Text 
handele, der schon im Jahr 1984 konzipiert worden sei, erscheint zu 
vollmundig, denn Ransmayr hatte damals lediglich vor, einen Text mit 
solchem Titel zu schreiben, als bei ihm die Augenkrankheit gleichen Namens 
diagnostiziert worden ist. Die Tatsache, dass der Autor an diesem Roman 
sieben Jahre gearbeitet hat, führt nicht automatisch zur "Kondensation des 
schriftstellerischen Schaffens" (S. 48). (Demnach müsste der nächste Roman, 
der bereits neun Jahre auf sich warten lässt, zwangsläufig die vorherigen 
überbieten.) Gleichwohl erlaubt die Konzentration auf einen Text eine 
intensivere Beschäftigung mit dem Autor, der Spitz vollauf gerecht wird.
      Die Frage nach der Gattungszugehörigkeit beantwortet Spitz mit der 
Nähe zum Anti-Heimatroman, und verweist auf Robert Schneiders Schlafes 
Bruder und Hans Leberts Die Wolfshaut. Um sich der strukturellen Anlage der 
"erfundenen Welt" des Textes anzunähern, befragt Spitz ihn nach seinen 
intertextuellen Beziehungen. In einem ersten Schritt weist Spitz das 
intertextuelle Konzept Julia Kristevas zurück, da er ihre Vorstellung eines 
universellen Verweisprozesses des Textes verwirft und eine durch den Leser 
nachvollziehbare intertextuelle Bezugnahme des Prätextes favorisiert. In 
einem zweiten Schritt bestimmt Spitz auto-referentielle und 
hetero-referentielle Bezüge in ausgewählten Texten Ransmayrs. Ein 
wesentlich neuer Aspekt bildet der in diesem Kapitel integrierte 
onomastische Ansatz, der zu interessanten Ergebnissen bezüglich der 
Namensgebungen in Morbus Kitahara führt (S. 53-59). Lediglich das 
abschließende Kapitel des Komplexes 'Intertextualität' wirkt etwas 
fremdartig, worin Ransmayrs Der Ungeborene, ein Aufsatz über das Werk 
Anselm Kiefers, mit dem Erzählwerk sowie mit einigen künstlerischen 
Arbeiten Kiefers vergleicht. So erhellend wie die Untersuchung ist, 
arbeitet es doch der Homogenität des Großkapitels entgegen.
      Im Anschluss begibt sich Spitz zur Bestimmung der "Koordinaten des 
fiktionalen Modells 'Morbus Kitahara'" (S 66ff.). In Kapitel 4 der Arbeit 
untersucht er die Orte des Romans, in den folgenden Kapiteln die 
Romanfiguren (5), die Narrativik (6), die sozialen und wirtschaftlichen 
Strukturen des Ortes Moor im Roman (7) sowie den Problemkomplex „Schuld, 
Erinnern und Vergessen“ (8). Abschließend greift Spitz im "Mythen als 
Vehikel der Aufklärung" (9) überschriebenen Kapitel aus auf das Gesamtwerk 
Ransmayrs, um sich der Verwendung und/oder Destruktion folgender 
verschiedener Mythen darin zu widmen: Zivilisation, Geschwindigkeit, 
Vernunft, Monarchie und Religion. Auch hier muss angemerkt werden, dass die 
Auswahl Fragen offen lässt, da der ausgewählte Korpus zu selektiv und 
inhomogen erscheint. Die Zuordnung einzelner Texte Ransmayrs zu diesen 
Kategorien hinterlässt einen zu ungenauen Eindruck, denn unklar bleibt, 
inwiefern sich die genannten Kategorien auch in den anderen Texten 
wiederfinden und welche allein quantitative Bedeutung ihnen zukommt. Liest 
man z. B. das Kapitel "9.1 Mythos Zivilisation: 'Strahlender Untergang'" 
(S. 132ff.) hingegen als ein Beispiel der Zivilisationskritik im Werk 
Ransmayrs, so hat dieses wie übrigens auch die weiteren ein hohes 
Erkenntnispotenzial. Neuland in der Ransmayr-Forschung betritt Spitz mit 
der Untersuchung der Marienverehrung als Teil einer dogmenkritischen 
Religionsbetrachtung in Morbus Kitahara (S. 148ff.).
      Vor allem das den Konstruktionsprinzipien in Ransmayrs Werken 
gewidmete "Narrativik"-Kapitel überzeugt in der Hinsicht, dass der Annahme, 
Ransmayr sei als postmoderner Autor einzustufen, in seiner apodiktischen 
Form nicht haltbar ist. Umsichtig und differenziert argumentiert Spitz, 
inwiefern Ransmayr poetologisch statt dessen der Moderne näher steht: Seine 
"Erzählweise [...] korrespondiert mit dem Insistieren der klassischen 
Moderne auf der Wahrheits- und Sinnfrage sowie dem Problem der 
Tradierbarkeit von (geschichtlichen) Erfahrungen" (S. 103), so Spitz.
      Obwohl die Selektion des Korpus kritisch zu betrachten ist, erzielt 
Spitz durch die geleistete Untersuchung bisweilen sehr gute Ergebnisse. Im 
Gesamteindruck überzeugt die Argumentation Spitz', inwiefern Ransmayrs 
"erfundene Welten" mit der Wirklichkeit korrespondieren – nicht allein 
durch die als Belege zahlreich angeführten Textstellen. Daneben beeindruckt 
die Untersuchung durch ihre reichhaltigen Fußnotenverweise. Dem abstrakten 
Charakter des Themas wird darüber hinaus die Sprache Spitz' gerecht. Es 
obliegt der späteren Ransmayr-Forschung einen differenzierten Standpunkt 
hinsichtlich einer Zugehörigkeit seiner Texte zu Moderne oder Postmoderne 
einzunehmen.


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Dr. Holger Mosebach
Kölnische Straße 125
D - 34119 Kassel
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