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Adorno denkt über die radikale Rechte nach
1967 hat Adorno einen Vortrag über den erstarkenden Rechtsradikalismus gehalten. Unlängst ist die Rede erstmals gedruckt erschienen – sie ist nach fünfzig Jahren wieder überraschend aktuell.
Wolfgang Hellmich
5.8.2019, 05:30 Uhr
Adorno hatte ein aussergewöhnliches Gespür für gesellschaftliche und politische Strömungen. Ein bisher nicht veröffentlichter, jetzt erschienener Vortrag über Rechtsradikalismus, den er 1967 an der Wiener Universität gehalten hat, unterstreicht dies. Mit seinem Vortrag reagierte der Philosoph auf die Gründung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), die nach 1964 in mehrere Landesparlamente einzog. Adorno überraschte das Wiedererstarken der radikalen Rechten kaum. Jedoch nicht, weil er mit einem harten Kern von Unverbesserlichen rechnete. Vielmehr reproduzierte sich nach seiner Beobachtung der Rechtsradikalismus immer wieder von neuem.
Ganz allgemein deutet Adorno das Phänomen als «Angst vor den Konsequenzen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen». Die mittleren und die ohnehin deklassierten Schichten fürchten, zu «Modernisierungsverlierern» zu werden, wie man heute sagen würde. Ihr Unmut richtet sich laut Adorno paradoxerweise gegen diejenigen, die die kapitalistische Ordnung der Gesellschaft infrage stellen: gegen Linke und Randgruppen, jedoch nicht gegen das System selbst.
«Potenzielle Arbeitslose»
Für Adorno ist der Rechtsradikalismus ein notwendiges Begleitphänomen in kapitalistisch verfassten Gesellschaften. Er nennt ihn ein «Wundmal» einer unvollständigen Demokratie. Offensichtlich glaubte Adorno, dass in nicht bloss «formalen» Demokratien Abstiegsängste unbegründet sind.
Eine Reihe von Gedanken und Beobachtungen macht den Vortrag aktuell. Adorno erwähnt «das Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit». Trotz Wohlstand und Vollbeschäftigung fühlten sich viele Menschen als «potenzielle Arbeitslose». Heute sind es Digitalisierung und künstliche Intelligenz, die Arbeitskräfte «freizusetzen» drohen. Die «Konzentrationstendenz des Kapitals», die Adorno diagnostiziert, ist heute in der Kommunikations- und Digitalbranche zu beobachten. Die global operierenden Konzerne üben über ihre Marktmacht unverhältnismässig grossen gesellschaftlichen und politischen Einfluss aus.
Rechtsradikalismus und Nationalismus sind für Adorno zwei Seiten einer Medaille. Es wäre in seinem Sinne, auch den Populismus dazuzuzählen. Den Nationalismus betrachtet er als «Versuch der Selbstbehauptung inmitten der Integration». Wer dächte dabei nicht an die Länder, die sich von der Europäischen Union abwenden?
Im Konjunktiv formuliert
Was den Vortrag überzeugend macht, ist sein unaufgeregter Ton. Adorno argumentiert, beruft sich auf empirische Untersuchungen, formuliert vorsichtig und im Konjunktiv. Seine Zuhörer hält er an, nicht «schematisch» und «in Mustern» zu denken. Empfehlungen, wie dem Rechtsradikalismus zu begegnen sei, runden den Text ab. Er wirbt für den Dialog. Die Protagonisten seien durchaus ansprechbar, wenn es um ihre eigenen Interessen gehe. Man müsse zeigen, dass Unmut und Hass nur «projektiv» seien. Die Gründe für die Misere lägen ausserhalb des Attackierten. Adorno unterscheidet zwischen Rädelsführern und unreflektierten Anhängern. Die Lügen und «Tricks» derjenigen, die aus Unmut Kapital zu schlagen versuchten, seien zu entlarven.
Die Philosophie nimmt er ausdrücklich in die Pflicht. Kontemplation verändere nicht die Welt. Zuschauer, die nur kritisieren, hält er für feige, man müsse sich engagieren. In seinem schriftlichen Werk hat Adorno die Vernunft mehrfach verabschiedet, hier jedoch vertraut er auf ihre «durchschlagende Kraft».
Mitschnitten seiner Vorträge und Vorlesungen stand Adorno kritisch gegenüber. In Reproduktionen sah er Zeugnisse der «verwalteten Welt». Das Adorno-Archiv setzt sich seit Jahren darüber hinweg und hält ihn damit noch 50 Jahre nach seinem Tod lebendig. Ein erfüllteres Nachleben kann sich ein Autor kaum wünschen.
Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiss. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 89 S., Fr. 16.90.
Neue Zürcher Zeitung
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