Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 12.06.2019
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Wirtschaft, 12.06.2019
Mittwochsporträt
"Ich will Erfolg"
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Von Tobias Matern
Sie weiß, was es bedeutet, sich auf einmal nicht mehr gebraucht zu fühlen. Fremd in einem Land zu sein, in dem alle Qualifikationen als wertlos gelten. Sie hat gesehen, wie aus Dozenten Taxifahrer und aus Ärztinnen Putzfrauen wurden. Mursal Hedayat brauchte dafür keine Zeitungsartikel lesen und sich in das Schicksal anderer hineinzuversetzen. Sie hat das in der eigenen Familie mitbekommen. Als Kind floh sie mit ihrer Familie aus Afghanistan nach England, um Krieg und Zerstörung hinter sich zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie weiß, was das mit Menschen macht, erst die Heimat und dann die Identität zu verlieren, wenn man in ein neues Land geht, das einem das Gefühl vermittelt: Deine Qualifikationen sind hier nichts wert. Dass genau dieses Gefühl Flüchtlinge entwertet und in die Isolation treibt. "Ich hatte das Gefühl, dass dadurch viel Können verschwendet wird", sagt Mursal Hedayat. "Aber ich habe mich nicht auf das Problem konzentriert, sondern das Potenzial darin gesehen."
Mursal Hedayat sitzt im Nero-Café im Londoner Stadtteil Kentish Town, sie knabbert an einem Schinken-Käse-Sandwich, trinkt einen Cappuccino. Trinkgeld zahlt sie dafür keines, nicht weil sie geizig wäre, aber sie möchte nicht, dass der Kellner sich nur ins Zeug legt, um ihr als Kundin zu gefallen. Sie will, dass sich Dienstleister und Dienstleistungsnehmer auf Augenhöhe begegnen, sie will einen fairen Umgang miteinander. Mursal Hedayat ist 28 Jahre alt. Sie hat Betriebswirtschaftslehre in Leeds studiert, sie hat einen klaren Plan vom Leben und als Jungunternehmerin: Sie will etwas bewegen, aber sie will sich auch messen, sie will erfolgreich sein.
Vor zweieinhalb Jahren hat sie Chatterbox gegründet, eine Sprachschule, in der Flüchtlinge online oder persönlich Sprachen unterrichten, vor allem durch Konversationskurse. Das Prinzip, den richtigen Lehrer an den jeweiligen Schüler zu vermitteln, erinnert ein wenig an eine Dating-Seite - abgefragt werden beim Interessenten auch Hobbys, kulturelle Interessen, Ziele. So soll die Motivation während der Kurse gehalten werden, so sollen interessante Lehr-Gespräche mit den Schülern zustande kommen. Firmen zählen zu den Kunden, die ihren Mitarbeitern den Sprachkurs spendieren, auch Universitäten und Privatleute, die ihr Arabisch verbessern möchten. Bei Chatterbox setzen sie auf schnelle Erfolgserlebnisse, Studenten sprechen mit ihren Sprachlehrern über ihr Lieblingsgedicht, einen Zeitungsartikel oder ein Kochrezept, das sie gerne im Original verstehen möchten.
"Ich leite eine Firma und keine Nichtregierungsorganisation."
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Viel Lob hat Mursal Hedayat für Chatterbox bekommen - und einen Eintrag auf der Bestenliste von Forbes, in der sie in der Kategorie soziales Unternehmertum bei den besten "30 unter 30" aufgeführt wird. So eine Anerkennung gefällt ihr zwar, aber letztlich zählt für sie etwas anderes: "Ich leite eine Firma, und keine Nichtregierungsorganisation. Und ich will erfolgreich sein." Ganz plastisch erklärt sie den Unterschied zwischen sozialem Unternehmertum und Hilfsorganisation, indem sie auf mögliche Werbeslogans zurückgreift: "Lerne mit Chatterbox, weil Flüchtlinge deine Hilfe brauchen - das wäre eine Hilfsorganisation", sagt sie. "Lerne mit Chatterbox, weil wir weltweit die einzige Firma sind, die dir einen Sprachlehrer vermittelt, der deinem professionellen Hintergrund und deinen Interessen entspricht - das ist soziales Unternehmertum".
Die Jungunternehmerin verkennt die gesellschaftlichen Probleme nicht, die es in der Flüchtlingsfrage gibt - "das zu leugnen, wäre töricht". Sie will vor allem den gut Ausgebildeten eine Perspektive bieten, sie findet es absurd, dass Ärzte oder Anwälte nur Aushilfsjobs bekommen, so wie es unzählige Flüchtlinge aus ihrem Geburtsland Afghanistan nach der Flucht erleben. Seit Jahrzehnten herrscht in dem Land am Hindukusch Krieg. Wäre Mursal Hedayat in Afghanistan, hätte sie einen Konflikt nach dem anderen erlebt. Erst waren es in den 1980er-Jahren russische Besatzer, nach ihrem Abzug brach bald ein Bürgerkrieg aus. Dann schikanierten die Taliban die Bevölkerung, die Islamisten wurden von den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gestürzt, weil sie Osama bin Laden nicht aushändigen wollten.
Nun scheitert der Westen unter Führung der Vereinigten Staaten am Hindukusch, werden auch diese Besatzer in nicht allzu ferner Zukunft das Land verlassen, droht wieder das Abdriften in einen Bürgerkrieg. Für Afghanen, das bekommt Mursal Hedayat aus London mit, vor allem für ihre Generation, gibt es kaum Perspektiven, das Land hängt am Tropf der westlichen Geldgeber, jenseits der Kriegswirtschaft ist wenig entstanden - mit einer Ausnahme: Der Bildungssektor hat sich massiv ausgeweitet, zumindest ein Großteil der Kinder geht zur Schule und wenn es sich Familien finanziell irgendwie leisten können, schicken sie den Nachwuchs auch zur Universität.
Genau diese Gruppe bemüht sich angesichts des Terrors und der Perspektivlosigkeit um die Flucht nach Europa, sie sind jung und gut ausgebildet - und können, wenn sie es bis nach Europa schaffen, zunächst einmal nicht arbeiten. Chatterbox stellt seinen Kunden die Frage: "Wenn du eine Sprache lernen willst, wie wäre es dann, gleichzeitig das Leben eines anderen Menschen zu verändern?" Arabisch, Spanisch, Französisch, Persisch, Türkisch, Mandarin - das ist nur eine Auswahl der Sprachen, für die Chatterbox Lehrer vermittelt.
Die Fähigkeiten der Flüchtlinge sollen im Mittelpunkt stehen
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Sie hat Konferenzen mit anderen jungen Leuten aus der Tech-Branche erlebt, auf denen alle im Raum vor allem geschwärmt hätten - von Teamgeist, Kreativität und tollen Projekten in ihren Firmen. Sie hat etwas anderes betont: "Ich mag an meinem Job vor allem die Konkurrenzsituationen, und ich mag es, etwas zu beweisen", sagt Mursal Hedayat.
Mit Chatterbox will sie vor allem beweisen, dass es nicht sinnvoll ist, die vor Krieg und Armut geflohenen Menschen vom Arbeitsmarkt auszuschließen, oder sie nur im Niedrigsektor arbeiten zu lassen, weil so ihre Talente vergeudet werden. "Menschen respektieren Flüchtlinge so lange nicht, wie diese kein Geld verdienen, weil wir nun einmal im Kapitalismus leben", sagt Hedayat. "Meine Ausgangsfrage war: Wie kann man etwas zu Geld machen mit dem, was Flüchtlinge können?" Zunächst einmal hat sie alle Vorbehalte gesammelt, die es gegen Flüchtlinge gibt: Ihre Abschlüsse werden in Europa in aller Regel zunächst einmal nicht anerkannt, ihre Arbeitserfahrungen infrage gestellt. "Man kann einem Flüchtling alles absprechen, den ganzen Lebenslauf, aber man kann eben nicht leugnen, dass sie großartige Sprachkenntnisse haben, das liegt ja auf der Hand", sagt sie.
Die Erfahrungen ihrer eigenen Familie haben sie geprägt
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Mursal Hedayat hat sich ihre eigene Geschichte zunutze gemacht, sie hat die familiären Erfahrungen als Ausgangspunkt ihrer Geschäftsidee gesehen. Die Erlebnisse ihrer Mutter, eine ausgebildete Ingenieurin, seien prägend gewesen. Diese habe Jahre gebraucht, um auf dem britischen Arbeitsmarkt respektiert zu werden. Und Mursal Hedayat sagt, eine Reise ins Flüchtlingslager nach Calais habe ihr gezeigt, dass sie einen anderen Blick auf die dort Gestrandeten habe als die europäischen Helfer, dass sie sich besser in die Flüchtlinge hineinversetzen könne. So entstand der Wunsch, ein Unternehmen zu gründen, das Flüchtlinge nicht als Bittsteller behandelt oder aus Barmherzigkeit einstellt. Sondern sie in den Mittelpunkt stellt, indem es ihre Fähigkeiten einsetzt. "Master a Language, Change a Life", verspricht Chatterbox (Beherrsche eine Sprache, verändere ein Leben) seinen Kunden - genau das ist Mursal Hedayats Ansatz.
Sie gehört zur Generation der "Millennials", der Unter-30-Jährigen, denkt politisch, aber nicht dogmatisch. Und sie will gesellschaftliche Verantwortung übernehmen: "Meine Generation hat von klein auf so viele Krisen mitbekommen", sagt sie und meint damit die Anschläge vom 11. September, die Erderwärmung, die Bankenkrise. Für Mursal Hedayat folgt daraus als Unternehmerin eine klar definierte, simple Mission: "Wenn man in einer Welt mit so vielen Problemen aufwächst, gibt es auch unzählige Möglichkeiten, sie zu lösen."
Für ihr Unternehmen hat sie Investoren gefunden - die wollen auch Profite
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40 Sprachlehrer beschäftigt Chatterbox im Moment, einige Universitäten und Unternehmen wollen demnächst die Dienste des Unternehmens in Anspruch nehmen, also will sie mehr einstellen. Sie zahlt über dem Mindestlohn und orientiert das Gehalt an den Orten, in denen ihre Sprachlehrer wohnen. Wer also von London aus für Chatterbox arbeitet, bekommt mehr als jene aus einer anderen englischen Stadt.
Mursal Hedayat hat das Start-up aus dem Nichts heraus aufgebaut, sie hat Investoren akquiriert, sie hat erst zuviel gearbeitet und achtet nun darauf, nicht schon mit unter 30 Jahren auf ihr erstes Burnout zuzusteuern. Sie nimmt sich Auszeiten und freut sich über einen Brunch mit Freunden an einem Wochentag, weil sie als ihre eigene Chefin selbst festlegen kann, wann sie arbeitet. In 18 Monaten, sagt Hedayat, werde Chatterbox Profite abwerfen, sonst werde sie eben etwas anderes machen müssen. Und obwohl ihre Firma erfolgreich läuft, verschweigt sie auch nicht die "ständigen Zweifel, das Gefühl des ständigen Ausprobierens". Aus ihr spricht dann die Unternehmerin, die zwar die Welt ein kleines bisschen verbessern will, dabei aber ihren Sinn für die Realität bewahrt hat.
Tobias Matern
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Tobias Matern, Jahrgang 1978, ist als Redakteur in der Außenpolitik zuständig für Süd- und Südostasien sowie Sicherheitspolitik. Er hat in Berlin Politikwissenschaft studiert und in Washington eine Journalistenschule besucht. Matern war für die SZ Korrespondent in Delhi und Bangkok. Als Ko-Kurator hat er eine Afghanistan-Ausstellung im Münchner Museum für Völkerkunde mitgestaltet.
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