Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 19.01.2019
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Buch Zwei, 19.01.2019
Großbritannien und die EU
Flying Circus
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Von Stefan Kornelius
Wer immer im Olymp der politischen Götter für Europa zuständig ist, hat sich einen hübschen Spaß mit dem Terminkalender erlaubt. Für den 21. Januar ist Theresa May ins britische Parlament einbestellt, um ein für allemal mitzuteilen, was sie am Brexit-Vertrag zu ändern gedenke. Manche sagen: ihre letzte Chance. Am 22. Januar, dem deutsch-französischen Tag, versammelt sich knapp 500 Kilometer Luftlinie entfernt die politische Elite aus Paris und Berlin in Aachen, um mit Pomp einen neuen Elysée-Vertrag zu feiern. Manche sagen: eine vertane Chance.
Zwei Tage, zwei Orte und eine geradezu gespenstische Kollision schicksalhafter Motive der europäischen Geschichte.
Der Brexit: eine Zäsur in der britischen Politik, die formelle Loslösung vom Verbund der europäischen Staaten, ein tonnenschweres Symbol der Desintegration und des Misstrauens gegenüber Europa, ein Symptom des weltweit wabernden Nationalismus und ein Sieg des Populismus. Der Elysée-Vertrag: jene nach zwei Weltkriegen und Millionen Toten auf wenige Absätze reduzierte Versöhnungserklärung zwischen Frankreich und Deutschland, ein emotionaler, aber dann doch irgendwie hölzerner Beleg der gegenseitigen Zuneigung der Herren de Gaulle und Adenauer, an deren Vorbild sich die Nationen aufrichten und aus ihren Trümmern emporsteigen sollten.
Zu viel Pathos? In Aachen werden sie diese Symbolik in schmeichelnde Worte kleiden - aber sie werden die andere Geschichte nicht erwähnen, die Geschichte des Misstrauens und der Rivalität. In London werden sie über den Backstop streiten und über ein zweites Referendum. Aber sie werden nicht innehalten und fragen, warum dieses Großbritannien (eigentlich: dieses England) bis zur Selbstzerfleischung um seinen Platz in der Welt ringt.
Es ist die Geschichte von Macht, Kontrolle und Ausgleich - die Geschichte der britischen, der französischen, der deutschen, am Ende: der europäischen Identität.
"Wir stehen zu Europa", meinte Winston Churchill. "Wir gehören aber nicht dazu."
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Diesem Wunsch nach einer europäischen Identität liegt ein eiskaltes Kalkül der Realpolitiker zugrunde: Nach den beiden Weltkriegen und der scheinbar unauflösbaren Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich waren es Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, die eine bedingungslose Allianz der beiden Staaten als Garant für Frieden in Europa anstrebten. Doch Selbstlosigkeit und Emotionen haben weder den Bundeskanzler noch den französischen Präsidenten getrieben. Adenauer suchte für die Bundesrepublik einen festen Anker im Westen, auch und vor allem zum Schutz vor der Sowjetunion. Und de Gaulle wollte die europäischen Kräfteverhältnisse endgültig zugunsten Frankreichs wenden, auch aus traditionellem Misstrauen gegen die typische britische Ausgleichspolitik und aus Angst vor einem Amerika, das wankelmütig werden, eigene Interessen verfolgen und Europa den Schutz nicht auf ewig garantieren könnte. Donald Trump bestätigt dieses Misstrauen.
Es dauerte bis in die frühen 60er-Jahre, bis de Gaulle und Adenauer zum Kern einer Allianz vorstießen: Sollten beide Staaten eine politische Union eingehen, ein Bündnis souveräner Staaten, das aber in seinen Entscheidungen und außenpolitischen Bindungen mit einer Stimme sprechen würde? Die Gründungsstaaten der heutigen Europäischen Union waren zu dieser tiefen Zusammenarbeit nicht bereit. Würden es die Erzrivalen schaffen?
Der Entwurf des Elysée-Vertrags legte für diese politische Allianz den Grundstein. Aber Adenauer hatte den Widerstand im Bundestag unterschätzt. Das Parlament zwang den Kanzler, dem Vertrag eine Präambel vorzustellen, aus der die gespaltene Realität der Bundesrepublik ablesbar war und die den politischen Kern des Vertrags entwertete: Die Bindung an die USA und die Nato wurde als unabdingbarer Bestandteil der deutschen Bündnisarchitektur der Allianz mit Frankreich an die Seite gestellt.
Für de Gaulles strategische Vision eines von Frankreich geführten Europas (ohne die USA und wohl auch die Nato) war die deutsche Wankelmütigkeit ein herber Schlag. 1964 beschwerte er sich bei einem Besuch in Bonn, dass die deutsch-französische Ehe nicht vollzogen worden sei, "ich bin noch immer Jungfrau geblieben".
Die deutsche Zauderei hat ihre britische Entsprechung. Auch 40 Jahre nach dem Beitritt wissen die Briten nicht, ob sie wirklich Teil der Europäischen Union sein wollen. Ihr Eheversprechen wurde mehrfach gebrochen oder mündete in Phasen der Entfremdung. Wenn also die britischen, französischen und deutschen Parlamente in London und Aachen tagen, dann kreuzen sich historische Linien, dann steigen die Geister der Vergangenheit empor. Welches Europa werden Paris und Berlin da anführen? Kann Europa überhaupt funktionieren ohne Großbritannien? Welche alten Mächte-Konflikte werden wiederauferstehen?
Winston Churchill, der überlebensgroße Kriegspremier und Navigator britischer Interessen zwischen Kolonialmacht und Europa, wird in diesem Moment immer gerne als Deuter herangezogen. Er hinterließ unendlich viele Belege seiner europäischen Visionen - aber auch seines Instinkts als Politiker des Machtausgleichs. All seine Reden und Notizen wurden inzwischen ausgeschlachtet, um ihn entweder auf die Seite der bekennenden Europäer zu ziehen oder um mit seiner Hilfe die britische Sonderrolle zu begründen. Churchills Kreismodell, aufgezeichnet auf der Rückseite eine Tischkarte während eines Dinners mit Adenauer im Jahr 1953, gibt einen treffenden Eindruck: Drei Kreise - einer für Großbritannien, einer für die USA, einer für Europa - überlagern sich wie olympische Ringe. So entstehen Schnittmengen, aber auch Flächen, die von unterschiedlichen Interessen zeugen. "Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu, wir sind verbunden, aber nicht umfasst", sagte Churchill schon zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.
Freilich finden sich auch unzählige Belege für Churchills europäisches Bekenntnis: Im emotionalen Tief nach der Abwahl 1945, nach Triumph und tiefem Fall also, spielte er mit dem Gedanken, "der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Europa" zu werden. Und nach seiner historischen Züricher Rede 1946 ließ er Vertraute wissen, dass er die britische Rolle in diesen Vereinigten Staaten von Europa lediglich nur deshalb in seinem Vortrag nicht erwähnt habe, um Misstrauen gegen den Führungsanspruch Londons vorzubeugen.
Wie viel Europa steckt in diesem Land?
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Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Churchill war sich der britischen Sonderstellung immer bewusst. Als archetypischem Vertreter einer Ausgleichspolitik schwebte ihm ein Europa vor, das den sowjetischen Einfluss abwehrt, die amerikanischen Kräfte bindet und die Mächte auf dem Kontinent versöhnt. Dem siegreichen Britannien kam dabei eine Patenrolle zu. Die Fixierung auf Churchill führt freilich zum Grundübel der britischen Europa-Obsession: einer Geschichtsbesessenheit, die gerade heute blind macht für die Realität. Geschichte fließt, aber offenbar nicht für eine einflussreiche Gruppierung der britischen Führungsschicht, die Geschichte gerne instrumentalisiert - zum Machterhalt, zur Agitation der Wähler, um sich darin zu suhlen und wohlzufühlen. Parallelen zu Churchills Teilbekenntnis zu Europa ("mit, aber nicht in Europa") finden sich in allen Phasen der britischen Geschichte. Manchmal gleichen sie sich aufs Wort.
Lord Bolingbroke, der auf britischer Seite als einer der Unterhändler den spanischen Erbfolgekrieg zu Ende brachte, sagte, dass "wir Nachbarn des Festlandes sind, nicht aber ein Teil von ihm; dass wir Europa zugeordnet sind, nicht aber ihm angehören". Bolingbroke setzte um, was der geistige Vater der britischen Europa-Ambivalenz, Wilhelm von Oranien, in seiner Thronrede 13 Jahre zuvor als Prinzip postuliert hatte: dass England die Mächte Europas im Gleichgewicht halten müsse und durch geschickte Politik (und Kriege) dafür zu sorgen habe, dass keine Macht den Kontinent dominieren könne.
Dabei zu sein, aber ungebunden - bis heute setzt sich dieser Leitgedanke britischer Machtpolitik fort. Selbst Tony Blair, der wohl europafreundlichste Premier, konnte diesen Zwiespalt nie auflösen. In einer großen Europarede aus dem Jahr 2000 spricht er von den Briten als "stolze und unabhängig gesinnte Inselrasse, wenngleich sehr viel europäisches Blut in unseren Adern fließt".
"Ich bin noch immer Jungfrau geblieben." Charles de Gaulle zur deutsch-französischen Ehe
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Der Historiker Harold James, der sich qua seiner Spezialisierung auf deutsche Geschichte einen anderen Blick bewahrt hat, versuchte einmal den so typisch britischen Kampf mit den Präpositionen zu erklären: in, mit, oder (ein Teil) von Europa - die britische Sprache hält, so James, eine "Tiefengrammatik" bereit, deren Wurzeln sich bis Shakespeare oder zur Übersetzung in der King-James-Bibel aus dem 17. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Über den Dingen zu stehen, sie zu steuern, aber nicht Teil davon zu sein - das ist Leitmotiv britischer Diplomatie. Oder in den berühmten Worten des Außenministers und späteren Premiers Lord Palmerston: "Wir haben keine Verbündeten. Wir haben Interessen."
Die Beweisführung für das Recht des britischen Sonderwegs ist die immer gleiche, dokumentiert in unzähligen Büchern, Tausenden Zitaten und intelligenten Redeschlachten, reduziert auf ein einziges Argument: Geschichte. Insellage und historische Erfahrung machten Großbritannien nun mal besonders, die demokratische Tradition, die frühe Kodifizierung der Bürgerrechte gegenüber den Herrschern, die politisch motivierte Loslösung von der katholischen Kirche, der Parlamentarismus, die Elemente der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates.
Dann: die Erfahrung als Kolonialmacht und Handelsnation. Die den Briten eigene Nüchternheit in der Geistesgeschichte, die Pragmatismus und Realismus über Moral und philosophischen Idealismus stellt. Schließlich und über allem: die Standfestigkeit im Angesicht des europäischen Totalitarismus, der Kampf gegen und natürlich der Sieg über Adolf Hitler. Wenn das mal nicht ausreicht ... Moment mal, sagt da eine nicht unbedeutende Gruppe von Historikern: Wenn das mal stimmt? Und tatsächlich regt sich seit vielen Jahren beachtlicher Widerstand gegen die Deutung britischer Geschichte als eines einzigartigen, ungebrochenen Weges zum Beleg des Exzeptionalismus.
Schon seit den frühen 2000er-Jahren streiten Historiker um die Frage der Einzigartigkeit britischer Geschichte - und damit um nicht weniger als die Identität des Landes. Denn es ist nicht so sehr die Bierbraukunst oder der Fußball, von dem sich der Stolz auf die Britishness ableitet, sondern natürlich die Sonderstellung in der Familie der Nationen.
"Historians for Britain" gegen "Historians for History" - so nennt sich die Aufstellung zu einem Spiel, in dem um die Geschichte als mächtigstes Werkzeug der Identität und um ungebrochene Kontinuität gerungen wird. Um es abzukürzen: Die Mehrheit der Historiker vertritt inzwischen die Meinung, dass die Flucht in die glorreiche Vergangenheit schlecht begründet ist, dass Großbritannien nicht anders als Frankreich, Deutschland oder Spanien auch durch einen vergleichbaren Prozess der Emanzipation gegangen sei - mit Bürgerkrieg, Parlamentarismus, Reformation, inneren Spannungen und dem Bedürfnis nach Loslösung und Neuordnung, wie es sich zuletzt im nordirischen Bürgerkrieg oder im schottischen Unabhängigkeitsreferendum gezeigt hat.
Bemerkenswert ist, dass die Debatte nun einen schrillen, ideologischen Unterton bekommt, dass Europhobie in einem Atemzug genannt wird mit einer Paranoia englischer Reaktionäre, die mit der Angst vor Fremdbestimmung und Verschwörung hantieren und dabei bewusst die Ankerhaken der Geschichtsschreibung einsetzen: den heroischen Kampf gegen die Nationalsozialisten und die glorreiche Vergangenheit im Empire.
Haben es die Europhobiker also übertrieben? Zeugt ihre schrille Deutung von Europa als Machtwerkzeug der Deutschen zur Beherrschung des Kontinents nicht eher von einem Wahrnehmungsdefizit der Zustände im eigenen Land? Wiegeln sie gar die Wähler auf und lenken von den eigentlichen Missständen ab?
Die Eruptionen im britischen Parlament zeugen jedenfalls davon, dass hier weit mehr zur Abstimmung steht als der Brexit-Vertrag. So wie Deutsche und Franzosen in der Aachener Elysée-Zeremonie der Frage nach ihrer nationalen Identität aus dem Weg gehen, und genauso wie Adenauer und de Gaulle das Heiligtum der nationalen Souveränität nicht antasteten, so zwingt die Brexit-Abstimmung nun auch das britische Parlament zu einer längst überfälligen Klärung: Wie viel Europa steckt in diesem Land? Die Antwort darauf haben bisher nur die Historiker gegeben.
Stefan Kornelius
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Stefan Kornelius leitet seit 2000 das außenpolitische Ressort der Süddeutschen Zeitung. Zuvor arbeitete er als stellvertretender Leiter des Berliner Büros und berichtete während der Clinton-Präsidentschaft als Korrespondent aus Washington. Von 1991 bis 1996 war Kornelius als Korrespondent im Bonner Bundesbüro der SZ für die Berichterstattung über Verteidigung und sicherheitspolitische Themen sowie über die CDU zuständig. Kornelius absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule und studierte an der Universität Bonn und der London School of Economics. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift Medium Magazin.
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