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Gebaut, um die Deutschen deutscher zu machen: Die Walhalla
Der deutsche Identitätsdiskurs ist kompliziert, und das nicht erst seit dem Nationalsozialismus. Dafür steht auch Deutschlands kuriosestes Nationaldenkmal in Donaustauf bei Regensburg.
Benedict Neff, Regensburg
14.8.2018, 05:30 Uhr
Über eine Frage haben sich die Deutschen schon immer gerne gestritten: Was ist deutsch, was ist die kollektive Identität? In den Debatten um Integration und Leitkultur wird diese Frage immer wieder aktualisiert. Für Aussenstehende ist der Diskurs um das Deutschsein, das Nichtdeutschseinwollen und das Nichtdeutschseinkönnen ein grosses Schauspiel. Bundeskanzler Helmut Kohl versuchte die britische Premierministerin Margaret Thatcher einmal davon zu überzeugen, dass er sich mehr als Europäer fühle denn als Deutscher. Nach der Begegnung meinte Thatcher zu ihren Leuten: «Dieser Mann ist so deutsch.
Der deutsche Identitätsdiskurs ist kompliziert, und das nicht erst seit dem Nationalsozialismus. Lange sah es nicht so aus, als gebe es jemals einen deutschen Staat. Friedrich Schiller schrieb mit dem «Wilhelm Tell» das Nationalepos der Schweiz; seinen eigenen Landsleuten beschied er: «Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.» Anfang des 20. Jahrhunderts näherte sich Thomas Mann der Frage nicht optimistischer. Der Begriff «deutsch» sei ein «Abgrund, bodenlos».
Das Wunder der Deutschwerdung
In der Nähe von Regensburg steht ein Bau, der sich all diesen Zweifeln entgegenstellen will. Der bayrische König Ludwig I. liess auf dem Bräuberg an der Donau die Walhalla errichten. In diesem Tempel sollten nach seinem Willen die Büsten der grössten Deutschen versammelt werden. Ludwigs Vorstellung war es, «dass teutscher der Teutsche» aus der Walhalla trete. Allein das Anschauen der Büsten sollte das Wunder der Deutschwerdung bewirken. Die heutige Politik würde von einem Leuchtturmprojekt sprechen.
Die Idee für das utopische Denkmal entstand aus einem Minderwertigkeitskomplex. Napoleon demütigte die Deutschen mit seinen Feldzügen, eine eigene Nation war Anfang des 19. Jahrhunderts nicht in Sicht; es gab zu jener Zeit nicht viel mehr als eine deutsche Sprache. Diese machte Ludwig I. auch zum Kriterium für eine Aufnahme in den Tempel. «Teutscher Zunge» müsse man sein, um ein Walhalla-Genosse zu werden. Alles andere spiele keine Rolle. In der Walhalla bestehe Gleichheit, da der Tod jeden irdischen Unterschied auflöse.
Ein undeutscher deutscher Ort
Der Architekt Leo von Klenze liess sich bei der Gestalt des Denkmals vom Parthenon auf der Akropolis inspirieren, der Name Walhalla erinnert an das Kriegerparadies in der nordischen Mythologie. Die Büsten wiederum stellen nicht nur Deutsche, sondern auch Niederländer, Österreicher und Schweizer dar; entscheidend ist die Sprache. Den Kunsthistoriker Jörg Traeger veranlasste dies zur Bemerkung, dass kaum ein Ort auf der Welt weniger deutsch sei als die Walhalla. 1842 wurde der Bau fertiggestellt, mit 96 Büsten und 64 Gedenktafeln. Letztere wurden für all jene Helden angefertigt, deren Gesichtszüge nicht bekannt sind.
Schon zu Ludwigs Zeiten reizte dieses eigenwillige Bauwerk zu Kritik und Spott. Der Dichter Heinrich Heine sprach von einer «marmornen Schädelstätte», Fürst Metternich sah einen «Wald von abgeschnittenen Köpfen» und viel Geld, das aus dem Fenster geworfen wurde. Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt war dem dorischen Tempel zwar zugetan, beanstandete aber die «infamen Treppenmassen», die drei Viertel des Gebäudes ausmachten. Tatsächlich machen sie sehr viel mehr aus: Ein zwanzig Meter hoher Tempel steht auf einem Treppenunterbau von hundert Metern. Nähert man sich der Walhalla von Regensburg her mit dem Schiff, so wirkt sie wie eine groteske Vision. Ein Bau, so entrückt wie die Büsten selbst, die im Innern mit leeren Augen vor sich hin starren.
Heines «Marmorne Schädelstätte»
Die wahre Provokation des Denkmals ist aber seine ständige Aktualisierung. Alle fünf bis sieben Jahre kommt eine neue Büste hinzu. Der Zeitgeist verändert die Walhalla. Ungemütliche Kriegergestalten wie die Brüder Horsa und Hengest werden so zusammen mit Sophie Scholl, einer Kämpferin gegen den Nationalsozialismus, geehrt. Kombiniert wird das mit Friedrich Ludwig Jahn, dem sogenannten Turnvater, bei dem Juden nicht vorturnen durften. Auch der Erfinder der Taschenuhren, die Seherin Veleda und der Sternkundige Henschel sind vertreten. Kant, Schiller, Goethe sowieso. Bei der ursprünglichen Besetzung liess sich Ludwig I. vom Schaffhauser Historiker Johannes von Müller beraten. So sind auch einige Schweizer dabei, unter ihnen Bruder Klaus, Winkelried und «die drei Männer von Rütli». Es ist eine politisch-unkorrekte Collage von Geschichte. Der jüngste Walhalla-Genosse ist Heinrich Heine, jener deutsche Dichter, der mit Ludwigs Büstenherberge so gar nichts anfangen konnte.
Alle fünf bis sieben Jahre kommt eine neue Büste hinzu. So ist hier Sophie Scholl neben Turnvater Jahn vertreten. (Bild: Bayerische Schlösserverwaltung)
Das Reglement besagt, dass ein Held frühestens zwanzig Jahre nach seinem Tod in die Walhalla aufgenommen werden kann. Es ist hauptsächlich diesem Umstand geschuldet, dass der Nationalsozialismus an ihr fast spurlos vorbeigegangen ist. Für die Nazis waren die Fristen zu lang. Aber naturgemäss zeigten sie ein Interesse an diesem Gedenkort. 1937 nutzten sie die Walhalla für eine grosse Propaganda-Show. 800 Chorsänger empfingen Adolf Hitler, der für die Enthüllung der Büste des österreichischen Komponisten Anton Bruckner angereist war.
Werbung ist erwünscht
Gepflegt wird das Denkmal von der Bayerischen Schlösserverwaltung, die dem Finanzministerium angegliedert ist. Die Walhalla ist zwar kein Schloss, aber weil das Gebäude seit kurzem zur Schlösserverwaltung gehört, heisst der Chef nicht Verwalter, sondern Kastellan. Mit ihm zu reden, sei möglich, erklärt die Pressestelle. Positive Berichte und Werbung, fügt die Dame am Telefon hinzu, seien kein Problem. Vielleicht ist in dieser Ansage noch ein Kern von Ludwigs Anliegen geblieben, nämlich die Vorstellung, dass es sich um einen quasisakralen Ort handelt, über den man nicht irgendwie schreibt, sondern freundlich.
Er sei sehr stolz, hier zu arbeiten, sagt Alfons Eich, der Kastellan der Walhalla, während wir die Büsten abschreiten. Einen Lieblingskopf habe er nicht, aber eine Lieblingsstelle. Es sei die Südseite, von da komme die Morgensonne. Überhaupt sei die Walhalla am Morgen am schönsten, wenn der Marmor rot leuchte. Dass ihm die älteren Büsten mit ihren lebensechten Zügen besser gefallen, sagt Herr Eich nicht, aber man hört es ein wenig heraus. Der Respekt vor der Walhalla verbietet solche Bemerkungen. Allgemein wird deutlich, dass sich Künstler unserer Zeit nicht mehr allzu häufig mit Büsten beschäftigen müssen. Das 19. Jahrhundert war noch im Büstenfieber, diese Kunstform hat sich weitgehend verwirkt. Einstein sieht in der Walhalla eher aus wie eine Playmobilfigur.
Die Politik der Büsten
In der Halle herrsche eine andächtige Stimmung, sagt Herr Eich, und wenn dies nicht so sei, dann sorge das Personal dafür, dass es andächtiger werde. Seine Uniform trägt Herr Eich gerade nicht, weil er draussen zu tun gehabt habe; dafür ein weites rotes Poloshirt und ein grosses Kreuz um den Hals. 2003 wurde er Abwart in der Walhalla, er ist mit den Lüftungsschächten daher fast vertrauter als mit den Schädeln. Herr Eich redet nicht viel, und wenn ihm eine Frage ansatzweise heikel erscheint, ähnelt er den Büsten. Er schweigt. Das betrifft auch die Platzpolitik in der Walhalla. Vier Plätze sind noch frei. Was dann geschieht, ist unklar: Rücken die Büsten auf den Regalen näher zusammen, oder gibt es neue Ablageflächen? Herr Eich meint, es blieben noch mindestens zwanzig Jahre Zeit, um solche Fragen zu erörtern. Die Zeit geht langsamer in Walhalla.
Wer in den deutschen Himmel kommt, bestimmt der Bayerische Ministerrat. Man könnte auch sagen: die CSU. Seit 1946 regiert sie mehr oder minder durch. Allerdings folgt sie bei der Büstenauswahl der Empfehlung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Vorschläge machen kann jeder, die Büste aus Carraramarmor muss dann aber auch selber bezahlt werden. Das kostet um die 50 000 Euro, Feier zur Büstenenthüllung inklusive.
Ärger mit den Walhalla-Genossen
Fast schon merkwürdig ist, dass der CSU-Hausgott Franz Josef Strauss nicht in der Walhalla steht. Als Markus Söder noch bayrischer Finanzminister war, brachte er Strauss ins Spiel. Konrad Adenauer, der erste deutsche Bundeskanzler, sei schon in der Walhalla, da würde «FJS» als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten sehr gut passen. Die SPD zeigte sich kritisch: Wieso muss ausgerechnet eine Person geehrt werden, die für Vetternwirtschaft und fragwürdige Rüstungsgeschäfte steht?
Die Auswahl der Büsten gab schon immer zu reden: zu wenige Frauen, zu viele Katholiken, zu wenige Bayern, Luther nicht von Anbeginn dabei, und wo ist eigentlich Thomas Mann?
«Bitte keine neuen Büsten» lautete die Überschrift eines Leserbriefs vom 7. Oktober 2015 in der «Süddeutschen Zeitung». Manche Bayern scheinen von der Walhalla allmählich genug zu haben, zumindest von diesem anstrengenden, lebendigen Denkmal, das von der Öffentlichkeit stets von neuem eine Meinung einzufordern scheint: Was ist eigentlich deutsch, und ist es auch verehrenswürdig? Es gibt den Wunsch, die Geschichte abzuschliessen. Dann würde sich auch die Frage nicht mehr stellen, ob all diese Büsten überhaupt zusammenpassen. Aber genau diese Ruhe schien Ludwig I. nie gewollt zu haben; und so geht das Theater weiter, und der Bayerische Ministerrat steht pflichtschuldig zu Walhallas Diensten. Als Nächstes ziehen Käthe Kollwitz und dann Max Planck in die Walhalla ein.
150 000 Menschen besuchen das Denkmal jedes Jahr, deutscher sind sie dabei kaum geworden. Aber vergessen werden sie die Walhalla wohl nicht.
Neue Zürcher Zeitung
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