Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich habe im Spiegel 6/2017 einen kontroversen Artikel zur "ewigen Krise" der Germanistik gelesen. Ja, mag sein, dass der Artikel schon etwas älter ist. Aber wer ihn - so wie ich - verpasst hat, kann nun hier noch einmal nachlesen. Siehe weiter unten.
Lesenswerte Reaktionen auf den Artikel finden sich übrigens u.a. hier:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/germanistik-in-der-krise-der-eierlegende-wollmilchgermanist-wird-dringend-gesucht-14865806.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/krise-der-germanistik-antwort-von-heinz-druegh-susanne-komfort-hein-und-albrecht-koschorke-14868192.html
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-02/germanistik-literatur-deutsche-sprache-krise
http://www.deutschlandfunk.de/zukunft-der-germanistik-praesenz-von-germanisten-im.691.de.html?dram:article_id=378560
Gruß,
Falco
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Dr Falco Pfalzgraf
Senior Lecturer in German Linguistics [SLLF]
Director of Graduate Studies [SLLF]
Convenor of the Language and Linguistics Section at the Centre for Anglo-German Cultural Relations [CAGCR]
Chairman of the London/UK branch of the Association for the German Language / Gesellschaft für deutsche Sprache [GfdS]
[log in to unmask]
http://webspace.qmul.ac.uk/fpfalzgraf
Queen Mary, University of London
School of Languages, Linguistics and Film
Mile End Campus / Mile End Road
LONDON E1 4NS
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DER SPIEGEL 6/2017, S. 104-109.
„Schiller war Komponist"
80 000 junge Menschen studieren Germanistik, das beliebteste geisteswissenschaftliche Fach an den deutschen Hochschulen. Ihre Berufsaussichten sind jedoch ungewiss, ihre Professoren spielen in der Öffentlichkeit keine Rolle.
in Studium „im Fachbereich Literaturwissenschaften", so heißt es in Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung", „führt bekanntermaßen zu so ziemlich gar nichts, außer — für die begabtesten Studenten — zu einer Hochschulkarriere im Fachbereich Literaturwissenschaften. Wir haben es hier im Grunde mit einem recht ulkigen System zu tun, das kein anderes Ziel hat, als sich selbst zu erhalten; die über 95 Prozent Ausschuss nimmt man in Kauf".
Houellebecq weiter: „Nun schaden solche Studien aber auch nicht und können sogar einen geringfügigen Nutzen abwerfen. Ein junges Mädchen, das sich als Verkäuferin bei Celine oder Herms bewirbt, muss selbstverständlich und in allererster Linie gepflegt auftreten; ein Abschluss in Literaturwissenschaften kann ein zusätzlicher Pluspunkt sein, dem Arbeitgeber wird eine gewisse mentale Beweglichkeit garantiert, die die Möglichkeit weiterer Karriereschritte nicht ausschließt, wo ansonsten keine brauchbaren Kompetenzen vorhanden sind."
So weit Michel Houellebecqs Urteil über die Literaturwissenschaften. Handelt es sich hier nur um Polemik? Und ist in Frankreich sowieso alles anders? Nein, Houellebecq hätte seinen Roman auch in Berlin, Hamburg oder Frankfurt am Main spielen lassen können. Auch hier sind die Berufsaussichten für Literaturwissenschaftler ungewiss. Auch hier trifft es vor allem junge Frauen: Vier von fünf Absolventen der Germanistik sind Studentinnen.
Unter dem Titel „Germanistik als Patient" hat kürzlich eine Gruppe junger Studenten und Akademiker eine Klageschrift zur Lage ihres Fachs veröffentlicht (Wehrhahn Verlag). Die Germanisten räumen zunächst ein, dass viele dieses Studium nur gewählt hätten, weil ihnen nichts Besseres eingefallen sei. Darm aber folgt eine Breitseite nach der anderen auf den UniBetrieb: Die Forschung sei weitgehend weltfern, die Professoren kümmerten sich nicht um die Studierenden. Und „im öffentlichen Bewusstsein" spiele die Germanistik trotz ihrer Größe keine Rolle. Wo, so fragen die Nachwuchsakademiker, sind die Stimmen jener, „die das Fach zu dem Giganten gemacht haben, der es heute, weit vor jeder naturwissenschaftlichen Disziplin, ist"?
Die Junggermanisten wissen natürlich, dass die Diskussion um die „Krise der Germanistik" fast so alt ist wie das Fach selbst. In jüngerer Zeit allerdings, so registrierten sie, flamme diese Debatte „verstärkt auf" — ein Befund, den viele Beobachter und Hochschullehrer teilen.
Das Fach habe „keinen Biss" und „keine Identität" mehr, sagt etwa der renommierte Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke, 58, aus Konstanz. Die Germanistik habe offenbar „ihre historische Mission erfüllt"; die Pflege der Nationalliteratur sei in den Zeiten der Globalisierung obsolet geworden. Er habe im vergangenen Herbst „den Fehler begangen", noch einmal einen Germanistentag — in Bayreuth — zu besuchen, wieder sei viel über die Krise geredet worden, am Ende aber komme wenig dabei heraus.
„Man forscht und murmelt so vor sich hin", notierte auch die „Zeit" über den Bayreuther Germanistentag. Das Blatt registrierte eine Menge Selbstmitleid und wenig Selbstbewusstsein. „Die Verzagtheit ist zum Verzweifeln."
Während beim Germanistentag 800 Wissenschaftler und Deutschlehrer eher über Nichtliterarisches wie Film, Comic und Computerspiel berieten, versammelten sich fast zeitgleich in Hamburg 3800 Historiker zu ihrem Branchentreffen. Bei bester Stimmung wurden die großen Fragen der Zeit diskutiert, der Populismus, die Geschichte der Migration und die Aushöhlung der Demokratie. Niemand sprach von einer Krise des Fachs.
Aber warum auch: Keine geisteswissenschaftliche Zunft ist derzeit so präsent wie die der Historiker: Ob Heinrich August Winkler oder Norbert Frei, Ute Frevert oder Götz Aly — sie und viele andere liefern historisch grundierte Erklärmodelle für die Gegenwart, sie sind medial präsent und kommen damit doch nur einer Aufgabe nach, die seit 250 Jahren im Pflichtenheft eines jeden deutschen Professors steht. Sie sind Personen des öffentlichen Lebens.
Dasselbe gilt übrigens für viele Soziologen und Politologen, für Juristen und Wirtschaftswissenschaftler. Ohne ihre Expertise wäre der Medienbetrieb aufgeschmissen, ohne ihre Präsenz würde die politische Kultur verarmen.
Aber warum schweigen die Germanisten? Wo sind heute Koryphäen wie Hans Mayer oder Peter Wapnewski, Eberhard Lämmert oder der Rhetorikprofessor Walter Jens, der mit seinen Fontane und Thomas-Mann-Interpretationen ganze Generationen von Studenten prägte? Warum verbarrikadieren sich ihre scheinbar namenlosen Nachfolger in dem „ulkigen System" des Michel Houellebecq?
Diese Fragen lassen sich durchaus beantworten, aber vorher ein paar Fakten und Zahlen zum Fach: Die Germanistik besteht aus drei großen Teilbereichen, der Neueren Literaturwissenschaft, der Mediävistik, also mittelalterliche Literatur und Sprache, sowie der Linguistik. Derzeit sind etwa 8o 000 junge Menschen im Fach eingeschrieben, davon 42 000 in Lehramtsstudiengängen; sie werden von fast 700 Professoren und einem ganzen Heer weiterer Wissenschaftler betreut. Allein in den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der an den Hochschulen tätigen Germanisten nach Angaben des Statistischen Bundesamts um 50 Prozent auf 3349 Personen. Viele von ihnen haben allerdings nur aus Drittmitteln finanzierte Zeitverträge.
Etwa jeder dritte Studierende bricht sein Studium vorzeitig ab, entweder weil er am Sinn und Zweck des Ganzen zweifelt oder weil er an den Anforderungen scheitert. Im Jahr 2015 haben 13 566 Studierende ein germanistisches Examen bestanden, davon 61 Prozent eine Lehramtsprüfung. 30 Jahre früher lag die Quote der potenziellen Lehrer noch deutlich höher, bei über 80 Prozent. Dafür war die Gesamtzahl niedriger: 1985 machten nur knapp 5000 Germanisten überhaupt ein Examen. Die Germanistik steht damit hinter BWL, Maschinenbau, Jura, Medizin, Wirtschaftswissenschaften und Informatik auf Platz sieben der beliebtesten deutschen Studienfächer, weit vor allen anderen Geisteswissenschaften.
Der Andrang auf das Fach wird von den Uni-Rektoraten gern gesehen und gefördert: Ein Studienplatz in Germanistik kostet die Hochschulen nur etwa 3700 Euro pro Jahr, für einen werdenden Elektroingenieur müssen sie dagegen fast 12 000 Euro investieren, für einen Mediziner etwa 20 000. Die Gründe liegen auf der Hand: Germanisten brauchen nur Bibliotheken, Ingenieure und Ärzte hingegen teure Labors und Krankenhäuser.
Die Etats der Hochschulen beruhen unter anderem auf Kopfquoten, die mit den Landesregierungen ausgehandelt werden, das heißt: „Die Universität finanziert sich wesentlich über die Studierendenzahlen in den Geisteswissenschaften", sagt die Frankfurter Germanistin Susanne Komfort-Hein, 56. Die Auslastung des Fachs — derzeit studieren über 4000 Germanisten in Frankfurt am Main — werde genau kontrolliert. Falls sie unter Plan rutsche, müsse Geld an die Landeskasse zurückgezahlt werden. Schon deswegen existiere in Frankfurt kein Numerus clausus für das Bachelorstudium der Germanistik.
Und so ergibt sich auch schon eine erste Antwort auf die Frage nach der mangelnden Präsenz von Germanisten: Der mit Seminaren, Vorlesungen und Sprechstunden vollgestopfte Uni-Alltag lasse einfach „zu wenig Zeit" für den öffentlichen Auftritt, klagen die Dozenten. Zudem werde ein solches Engagement von den Hochschulen materiell auch nicht honoriert.
Aber das ist noch keine ausreichende Erklärung. Wer aus der akademischen Nische heraustritt, muss nämlich in der wissenschaftlichen Community auch um sein Ansehen fürchten, man gilt dann schnell als halbseiden und nicht seriös. Um hier jeden Verdacht schon im Keim zu ersticken, haben sich viele Germanisten mit einem komplexen Sprachpanzer versehen, den nur wenige Eingeweihte durchstoßen können, interessierte Laien prallen fast immer ab. Wer etwa in der angesehenen „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik" einen — natürlich kritischen —Aufsatz über „Eine Kritik der Kritik der kritischen Heteronormativitätsforschung" verfasst, denkt nicht ernsthaft daran, dass sich ein breiteres Publikum für dieses Thema interessieren könnte.
Zu den schärfsten Gegnern dieser hochgezüchteten Fachsprache zählt der Philosoph Richard David Precht, 52, der einst als Germanist promoviert wurde und nun bei vielen Akademikern in Verruf geraten ist, weil er in den Medien so viel Erfolg hat. Heute sagt er selbstkritisch: „Wenn ich meine Doktorarbeit über Robert Musil noch einmal machen würde, würde ich sie komplett umschreiben und alles viel einfacher ausdrücken, das geht nämlich."
Die hermetische Sprache verhelfe den akademischen Akteuren zum sogenannten Distinktionsgewinn, oder, um es auch hier einfacher zu sagen, zu dem Gefühl, sie seien deutlich klüger als der Rest der Menschheit. Dieses Selbstbild, so Precht, sei jedem gegönnt. Schlimm seien nur die Auswirkungen auf die Studenten: Wer fünf Jahre seines Lebens diesem verschlüsselten Jargon ausgesetzt sei, müsse schon erhebliche Widerstandskräfte aufbringen, um sich danach noch klar und verständlich äußern zu können — und das ausgerechnet in einem Fach, das doch aus der Liebe zur deutschen Sprache entstanden ist.
Wahrscheinlich hat dieser „arrogantschnöselige Jargon" (Precht) auch etwas mit den Gegenständen zu tun, mit denen sich viele Germanisten heute beschäftigen. Seit der Studentenrevolte in den Sechzigerjahren und der Geburt der kritischen Germanistik hat sich das Fach in einem Maße ausdifferenziert, dass selbst die Akteure des Systems kaum noch den Überblick behalten können. Diverse Teilfächer wurden in eigene Institute ausgelagert, von Film und Medienwissenschaften über Ästhetik und Kulturtheorie. Entsprechend vielfältig fallen die wissenschaftlichen Methoden aus. Gender Studies und dekonstruktivistische Textzertrümmerungen sind momentan schon wieder out, dafür schwärmen viele von den „Digital Humanities", also einer Art computerbasierter Analyse literarischer Texte, oder auch von der Rückkehr zur schönen alten Philologie.
Aber diese Vielfalt hat auch eine innere Logik: Am Ende muss schließlich jeder der 3349 UniForscher seine eigene Nische finden. Unerschütterliche Optimisten behaupten zwar, die Wissenschaft entdecke stets neue Fragen, die es zu beantworten gelte, jede Epoche werde mit neuen Problemen konfrontiert. Kenner der Materie wie der Literaturwissenschaftler Koschorke äußern jedoch leise Zweifel: „Der deutschsprachige literarische Kanon", schrieb der Konstanzer Professor kürzlich in einem Essay, der die Branche in Aufruhr versetzte, werde sich „nicht in der Weise erneuern, dass eine ganze Forschungsindustrie dauerhaft davon zehren" könne; und „irgendwann" sei „auch der Komplexitätsgrad von Kafka-Deutungen nicht mehr steigerbar".
Für jüngere Forscher, so Koschorke, werde es offenkundig immer schwieriger, „ein noch nicht durchackertes Feld innerhalb der germanistischen Forschungslandschaft zu finden". Streckenweise seien schon Anzeichen „einer verödenden ,Überforschung`" bemerkbar. Mit anderen Worten: Den Germanisten geht ein bisschen die Puste aus.
Hinter all dem verbirgt sich noch eine grundsätzliche Frage, die an den Unis allerdings wie Hochverrat betrachtet wird: Wer hat eigentlich entschieden, dass dieses Land mehr als 3000 Germanisten braucht? War es irgendeine nationale Instanz wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Wissenschaftsrat oder die Kultusministerkonferenz, die einen objektiven Bedarf für genau diese Zahl an germanistischen Experten und für diese Menge germanistischer Erkenntnis festgestellt hat? Nein, natürlich nicht. Die Zahl der forschenden Professoren, Dozenten und Assistenten ist ausschließlich abhängig von der Zahl der Studierenden — und die hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht.
Ausgelöst wurde dieser Prozess durch den berühmten Lehrer Georg Picht, der 1964 in einem dramatischen Appell die heraufziehende „Bildungskatastrophe" beschwor und den rasanten Ausbau des deutschen Schul- und Hochschulwesens propagierte. Die deutschen Kultusminister setzten also alle Hebel in Bewegung, um die Akademisierung der Bevölkerung voranzutreiben, sie bauten neue Schulen und gründeten neue Hochschulen, sie richteten vor allem Lehramtsstudiengänge ein, also auch viele germanistische Fakultäten.
In den frühen Achtzigerjahren stieß die Expansion jedoch erstmals an Grenzen: Während die Unis noch unverdrossen neue Lehrer ausbildeten, stellten die Schulen plötzlich keine mehr ein. Seither werden dort nur noch frei werdende Stellen besetzt, und das auch nicht immer, denn der demografische Wandel lässt die Zahl der Schüler sinken, trotz der Zuwanderung.
Wer nun gedacht hatte, dass die Wissenschaftsminister irgendwann umsteuern würden, sah sich getäuscht. Seit den Neunzigerjahren gilt das Idealbild einer größtmöglichen Autonomie der Hochschulen. Eingriffe der Politik sind unerwünscht, nur die Uni-Rektorate können heute Fakultäten größer oder kleiner machen — in der Regel gelingt weder das eine noch das andere, die korporativ selbst verwalteten Hochschulen sind kaum bewegungsfähig. Für die Germanistik heißt das: Obwohl der Lehrerbedarf nachgelassen hat, sind die Fakultäten kaum angetastet worden — und die Studentenzahlen noch gestiegen.
Allein der Anteil der Studienberechtigten pro Jahrgang wuchs in den vergangenen 50 Jahren von etwa 6 Prozent auf heute fast 60 Prozent. Im vorigen Jahr haben mehr als 500 000 junge Menschen ein Studium aufgenommen. Und wer nicht so recht weiß, was er mal werden soll, studiert eben gern mal Germanistik. Bücher hat man ja schon immer gern gelesen. Für allzu strenge Prüfungen ist das Fach auch nicht bekannt.
Selbstverständlich sind unter den Studienanfängern eine Menge begabter junger Leute — wie etwa jene vier Frankfurter Germanistikstudenten, die sich an einem Nachmittag im Januar für ein Gespräch mit dem SPIEGEL zur Verfügung stellten. Maresi Wagner, 26, kann einen Bachelor vom Londoner King's College vorweisen und studiert jetzt in Frankfurt „Ästhetik", einen neuen Masterstudiengang. Sie hat sich für die Literatur entschieden, weil „man damit die Menschen besser versteht", und nichts sei spannender, als wenn man „Menschen trifft, die mit Literatur arbeiten", etwa im Theater oder im Film. Aber dass in ihren Seminaren mitunter 50 Studierende aus drei verschiedenen Studienphasen säßen (Bachelor, Master und Lehramt), findet sie dann doch „nicht so ideal". „Das sind einfach zu viele", sagt die Studentin, „die können unmöglich alle zu Wort kommen." Außerdem hätten sie alle ganz unterschiedliche Voraussetzungen, die einen hätten ihr Studium gerade erst begonnen, die anderen stünden kurz vor dem Master. Ein Seminar mit nur 20 Studierenden wäre natürlich sinnvoller, aber Maresi Wagner kann auch verstehen, dass man nicht einfach die übrigen 30 wieder hinausschicke. „Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage stimmt nicht."
Dabei hätten „viele eine große Leidenschaft für den Stoff", ergänzt Samuel Kramer, 20, der einen Bachelor in Germanistik und Philosophie anstrebt. Er findet das System zu verschult und glaubt, dass ein nicht so stark in Module und Pflichtstoffe aufgeteiltes Studium viele Mitstudenten besser motivieren könnte. Manchen sitze leider auch „die Angst im Nacken", sie wüssten nicht, was aus ihnen später mal werden solle.
Einige Kommilitonen, so erklärt Elena Imhof, 22, hätten den Lehramtsstudiengang Deutsch nur deswegen gewählt, weil sie die soziale Sicherheit suchten. Mitunter bestehe da „wenig Interesse an der Literatur". Die Ursache liegt nach Meinung der Lehramtsstudentin in den Schulen: Wenn sich schon manche Lehrer nicht für Literatur interessierten, warum sollte das dann bei den Schülern der Fall sein.
„Ich hatte einige Kommilitonen im Bachelor, die offensichtlich die falsche Wahl getroffen haben", berichtet auch Max Koch, 30. Der Masterstudent erinnert sich an eine germanistische Einführungsveranstaltung, bei der alle Anwesenden nach ihrer letzten Lektüre gefragt worden seien. „Einige sagten gar nichts, und eine sagte sogar ,Shades of Grey." Die Kommilitonin habe nicht einmal gewusst, dass sie nur eine Übersetzung gelesen habe.
Max Koch und die anderen drei Frankfurter Junggermanisten studieren trotz solcher Irritationen mit großer Begeisterung. Aber das gelte eben leider nicht für alle Studierenden, sagt Susanne Komfort-Hein, die Frankfurter Germanistikprofessorin. In den Seminaren und Vorlesungen fehle es häufig an der notwendigen Aufmerksamkeit, zu viele Studenten würden ständig auf ihren Smartphones herumtippen. „Mir ist das eigentlich sehr peinlich, die Studierenden zu bitten, damit aufzuhören", sagt Komfort-Hein. Aber manchmal bleibe ihr gar nichts anderes übrig.
Nur ungern sprechen Professoren über die Defizite ihrer Studenten. Aber selbstverständlich verändert sich auch die Klientel, wenn sich die Zahl der Studierenden innerhalb eines halben Jahrhunderts verzehnfacht. „Man hat hier ganz tolle Leute", sagt Heinz Drügh, 51, ebenfalls Germanist in Frankfurt, „aber viele sind auch total verwirrt und fragen sich zumindest am Anfang schon: ,Was geht denn hier ab? Was wollen die eigentlich von mir?'"
Im Manifest der Jungakademiker („Germanistik als Patient") finden sich erschreckende Beispiele für die Ahnungslosigkeit vieler Kommilitonen. Die Lektüre von Romanen etwa werde häufig als lästiger „Zwang" empfunden. Man lese nicht aus Leidenschaft, sondern bestenfalls aus einem Pflichtgefühl heraus, irgendwann wolle man ja Examen machen.
Die Germanisten haben einen Dialog protokolliert, der während einer Veranstaltung für Studienanfänger der Uni Düsseldorf von einem an die Wand projizierten Bild Heinrich Heines ausgelöst wurde:
„Mädchen 1: Wer ist denn das da?
Mädchen 2: Keine Ahnung.
Mädchen 1: Bestimmt Schiller oder so. Mädchen 2: Nee, Schiller war Komponist.
Mädchen 1: Echt? Dann ist das so Goethe.
Mädchen 2: Wer war das denn noch mal?
Mädchen 1: Keine Ahnung, irgendso'n Toter."
Der Dialog mag ein Extremfall sein, er ist aber auch ein Beleg für die erheblichen Wissenslücken, mit denen Studienanfänger mitunter ihr Germanistikstudium beginnen.
Und selbst bei den Absolventen fehlen nicht selten jene Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Berufstätigkeit unabdingbar sind. „Das Niveau und die Arbeitsbereitschaft lassen generell nach", klagt Markus Desaga, 50. Der Sprecher der Deutschen Verlags-Anstalt, selbst Germanist, vermisst zudem Basisfertigkeiten wie eine korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung bei jungen Bewerbern. „Die machen einfach viel zu viele Fehler."
Dennoch gilt das Verlagswesen unter Germanistikstudenten nach wie vor als erste Adresse nach dem Studium. „Irgendwas mit Medien" wollen sie fast alle machen, aber ein Lektorat in einem Verlag gilt schon als besonders attraktiv. Allerdings scheint die Nachfrage seit Langem eindeutig größer als das Angebot. Feste Lektoratsstellen sind nur noch selten zu haben, viele Bücher werden von freien Mitarbeitern lektoriert.
Dieser Trend gilt im Übrigen für fast alle Berufsfelder, in denen die Absolventen der Germanistik arbeiten. Die großen Zeitungsverlage, zum Beispiel, bauen eher Stellen ab, Jungredakteure werden nur selten eingestellt, wer unbedingt Journalist werden will, muss sich oft als Freiberufler durchschlagen.
Auch der Anteil der Lehramtsstudenten ist seit Jahren rückläufig. Wenn Lehrer gesucht werden, dann in den Fächern Mathematik, Informatik, Chemie und Physik. Selbst in Fächern wie Anglistik und Romanistik sind die Chancen auf eine schnelle Anstellung nach dem Referendariat besser als im Massenfach Deutsch.
Besonders finster sieht es aber für den Hochschullehrer-Nachwuchs aus. Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten viele Stellen aus dem akademischen Mittelbau in Professuren umgewidmet wurden, haben junge Germanisten kaum noch eine Möglichkeit, Karriere zu machen. Die Planstellen sind auf lange Zeit vergeben; erst wenn die Professoren aus der Babyboomer-Generation in den Ruhestand gehen, eröffnen sich neue Chancen.
Viele begabte Nachwuchsforscher werden derzeit nur mit Drittmitteln und auch nur auf Zeit angestellt. Das aber kann gefährlich werden: Wer mit Mitte vierzig immer noch keine Festanstellung hat, fliegt irgendwann ganz aus dem akademischen System.
Die Frankfurter Germanisten haben aus den Nöten ihrer Absolventen immerhin eine Konsequenz gezogen: In einem einjährigen Fortbildungsprogramm „Buchund Medienpraxis" können jene praktischen Fertigkeiten erworben werden, die einen Berufseinstieg erleichtern sollen. „Hier in der Verlags und Medienstadt
Dort, sagt Drügh, der das Programm leitet, „existiert natürlich auch ein aufnahmefähiger Arbeitsmarkt."
Genaue Informationen, was aus den Frankfurter Germanistikabsolventen später geworden ist, hat allerdings auch Drügh nicht. Die Universitäten bemühen sich generell nicht um solche Statistiken. Begründet wird diese Untätigkeit mit dem Datenschutz, doch nicht einmal anonymisierte Verfahren existieren. So ganz genau will man es offenbar nicht wissen. Viele fänden aber wohl einen Job, meint Drügh, „und sei es in der Werbung".
Tatsächlich sorgt derzeit die Hochkonjunktur dafür, dass die meisten Geisteswissenschaftler irgendwo in der Arbeitswelt unterkommen. Drüghs Kollege Koschorke hat allerdings erhebliche Zweifel, „ob ein Studium von Goethe, Kleist und Kafka der Königsweg ins Marketing" sei, da gebe es doch einige andere Ausbildungswege, die eher zu diesem Ziel führten.
Für den Konstanzer Literaturwissenschaftler gibt es deswegen nur eine Alternative: Die Germanistik müsse schrumpfen, zu einem eher „kleinen Fach" werden. Erst wenn sich nur die wirklich literaturbegeisterten, ambitionierten Studenten mit ihren Professoren um einen Gegenstand bemühten, der in der Welt der bewegten Bilder und des Internets ohnehin keine zentrale Rolle mehr spiele, habe dieses Fach überhaupt eine Zukunft.
Die Universitäten müssten dann allerdings auch ihre Zulassungspolitik ändern und nicht mehr aus finanziellen Gründen Massen von Germanisten in ihre Fakultäten locken, sie müssten Aufnahmeprüfungen einrichten, um nur die wirklich Interessierten auszubilden.
Aber auch die Professoren sollten ihre Nischen verlassen und sich öffentlich einmischen. „Noch nie", sagt der Philosoph Richard David Precht, „haben die Menschen in einer so durchfiktionalisierten Welt gelebt wie heute." Das müsse doch alles „erklärt werden", eine „wunderbare Aufgabe für Sprachexperten". Und Precht meint nicht nur die Werke der literarischen Fiktion oder des Films.
Wo also sind die Germanisten, die sich mit der Sprache der Lüge, mit dem Jargon der Populisten beschäftigen? Wo sind die Germanisten, die Stellung beziehen, die in den Medien gegen „völkische" Parolen antreten? Die Alternative kann nur lauten: Sprengt das „ulkige System" Houellebecqs. Macht euch bemerkbar!
Martin Doerry
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