from today’s Neue Zürcher Zeitung: Adolf Muschg über Glaube und Vernunft ( http://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/adolf-muschg-ueber-glaube-und-vernunft-sind-werte-glaubwuerdig-ld.122951 )
Sind Werte glaubwürdig? 20.10.2016, 05:30 Uhr
Die westliche aufgeklärte Gesellschaft wird vom Glauben herausgefordert. Sie hat in ihrer Selbstvergessenheit dieser Zumutung wenig entgegenzusetzen.
Lessing, ein Wegweiser deutscher Aufklärung, war Pfarrerssohn. Das ist dem Szenario anzumerken, das er für den «Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit» entwirft. Auf ihrer ersten Stufe tue die Menschheit das Gute, weil es Der Vater befohlen hat. Auf der zweiten: weil es Der Sohn vorgelebt hat. Erst auf der dritten Stufe werde der Mensch fähig, das Gute zu tun, weil es das Gute ist.
Was bei Christen das Reich des Heiligen Geistes wäre, ist für den Aufklärer das Zusammentreffen von Natur und Vernunft in der menschlichen Selbstbestimmung. Die einzige Grundlage dieses «Contrat social» wäre Kants kategorischer Imperativ, und sie bedürfte nicht einmal des Papiers, weil ihre Maxime in Seele und Gewissen jedes Teilnehmers der Gesellschaft eingeschrieben ist. Krieg verböte sich von selbst. Damit wäre endlich das Reich des ewigen Friedens ausgebrochen. Leider steht schon bei Kant die Wirtschaft, die diesen Namen im Schild führt, in unmittelbarer Nähe des Friedhofs. Heute liegen dort nur noch traurige Reste beerdigt, auch wenn schiefe Tafeln immer noch ihre Ehrwürdigkeit verkünden: Staub und Asche aller Utopien und ungereifter Blütenträume. Da liegen aber auch die realen Opfer, vergangene und aktuelle, die der Wunderglaube des Menschen an sich selbst, seine mörderische Selbstüberschätzung, gefordert hat.
Ist Gott eine Privatsache?
Inzwischen hat in unseren Gesellschaften die normative Kraft der Religion abgedankt – nur dass wir die Werte, die an ihre Stelle gekommen sind, jeden Tag auf jenen Friedhof, den Abfallberg der Geschichte, wandern sehen. Mit Religion geht es nicht, schon weil sie in der säkularen Welt zur Privatsache erklärt wurde – aber geht es ohne sie? Das ist undenkbar für diejenigen, für die sie keine Privatsache ist, sondern Gottes Wort. Inzwischen laufen ihnen viele Enterbte aus aller Welt zu. Die Waffen, mit denen wir ihnen begegnen, bezeugen keine Stärke, sie fahren fort, uns unsicher zu machen. Dagegen hilft keine Kriegserklärung und schützt kein Polizeiapparat.
Lessings Zweifel an der Tragfähigkeit seiner vernünftigen Heilsgeschichte kommt gerade in ihrem theologischen Fundament zum Vorschein. In einem fiktiven Dialog mit dem Schöpfer zog er die Suche nach der Wahrheit ihrem Besitz vor, der nur Gott selbst zustehe. Was ist Wahrheit und welcher Glaube der wahre?, fragt auch Saladin, ein Muslim, den weisen Juden Nathan, der glaubte, für einen Kredit in Anspruch genommen zu werden, und jetzt nur seufzen kann: «Ich bin / Auf Geld gefasst, und er will – Wahrheit. Wahrheit! / Und will sie so, – so bar, so blank, – als ob / Die Wahrheit Münze wäre! – Ja, wenn noch / Uralte Münze, die gewogen ward! – / Das ginge noch! Allein so neue Münze, / Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett / Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht!» Hier hören wir die Frage nach wahren Werten: Sie wird im Zeichen der Religion gestellt, aber ist sie auch ohne sie zu beantworten? Gibt es ein zeitliches Glück ohne ein ewiges? Hier lauert eine Falle, welche auch Adam Smith wohl erkannte, der Erzvater des ökonomischen Liberalismus. Er umgeht sie, indem er Eigennutz und Gewinntrieb – die immer noch im Todsünden-Katalog figurieren (als avaritia, luxuria, superbia) – neu codiert und sich dabei sogar «Gottes verborgener Hand» bedient.
Gott kann nicht gewollt haben, dass der natürliche Egoismus, den er in den Menschen gelegt hat, des Teufels sei. Beweis: Dieser starke Motor produziert auch einen Mehrwert für das Gemeinwohl, der diesem sonst entgehen würde. Ökonomie als Theodizee, Gott als pfiffiger Haushalter: mit der Pointe – die der schottische Protestant gewiss nicht beabsichtigt hat –, dass er in der Rechnung, die Smith in Seinem Namen angestellt hat, immer mehr zur fakultativen Grösse und schliesslich entbehrlich wird.
Aber es passt zur fortschreitenden Säkularisierung der Weltgeschäfte, dass Religion zur Privatsache erklärt und ihre unterschiedliche Praxis dem Gebot der Toleranz unterworfen wird. Den humanistischen Umgang mit dem Dilemma führt der weise Nathan in seiner Antwort an den muslimischen Herrscher vor: Die Wahrheit einer Religion werde nicht in ihren Glaubenssätzen, sondern an ihren Früchten zu erkennen sein.
Dass die Neutralisierung der aufgeklärten Vernunft zur monetären Rationalität die Quelle vieler Konflikte verdeckt, kann man als Zivilisationsgewinn betrachten. Für jedes Bedürfnis gibt es einen Markt. Er ist das neue Weltgericht – und der Arbeitsmarkt das jüngste Gericht für solche, die nicht gebraucht werden. Manche findet man dann im IS wieder oder in anderen Gruppierungen. Viele machen dafür ihren «Glauben» geltend. Das heisst, sie haben eine Stelle gesucht, die ihnen ermöglicht, an den eigenen Wert zu glauben. Dafür sprengen sie sich auch in die Luft.
Die Entdifferenzierung der Vernunft zur Geldwirtschaft ist von einer nicht weniger weitgehenden Entsozialisierung der globalen Gesellschaft begleitet. Man kann offensichtlich Konfliktquellen nicht mit Geld verstopfen, ohne zugleich den Boden der Zivilisation auszutrocknen und zu veröden. Wenn westliche Staatsmänner, in Gesellschaft wichtiger Wirtschaftsvertreter, autoritäre Staaten bereisen, ist es eine Pflichtübung, den dortigen Umgang mit Menschenrechten anzumahnen, während sich etwa Chinesen nur wundern können, warum unsere Kataloge von Rechten und Freiheiten kein Korrelat von Pflichten kennen. Die korrekte Antwort lautet natürlich, dass diese Pflichten im angemessenen Gebrauch von Rechten und Freiheiten impliziert sind, dass man eben darum darauf verzichten kann, sie explizit vorzuschreiben. Angesichts der westlichen Praxis, der ein – sagen wir – Konfuzianer dann wirklich begegnet, wird er diese Erklärung nicht ernst nehmen müssen. Er kann sich darauf verlassen, dass die Geschäftspartner für ihre erklärten Werte keine Opfer bringen. Ihre Freiheiten sind handel- und verhandelbar. «Eigentum verpflichtet», sagt etwa das deutsche Grundgesetz, aber es lässt offen, wozu. «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Der Gegenbeweis ist in einem Arbeitsamt oder in einem Flüchtlingsheim leicht zu haben.
Dabei sind die geschriebenen Verfassungen der «frei» genannten Welt grosse historische Errungenschaft und wahre Denkmale aufgeklärten Geistes. Aber sie führen immer den Schatten der ungeschriebenen Verfasstheit des Menschen mit. Die noble Voraussetzung, dass der Mensch weiss, was er tut, und das Gute, das er erkennt, auch wollen kann, ist nicht nur durch die vergleichende Anthropologie erschüttert oder die Psychoanalyse, sondern durch historische Erfahrung.
Auschwitz war nicht der einzige Nullpunkt der Zivilisation. Ein neuer ist zurzeit wieder in Aleppo zu besichtigen. Die «internationale Staatengemeinschaft» steht so ratlos davor, als bereite ihr der Mensch immer neue, ungeahnte Überraschungen. Dabei stimmen die einfachsten Grundannahmen nicht: dass er ungern hasse oder nur aus Not töte; dass Menschlichkeit normal sei. Ganz gewiss sind barbarisch genannte Exzesse unserer Art immer normaler gewesen als die evangelische Zumutung der Nächsten- oder der ganz und gar unnatürlichen Feindesliebe. – Aber auch die ehrenhafteste Freiheit wird zum Konflikt mit sich selbst, wenn sie – wie heute – vom «Glauben» herausgefordert ist und sie ihm nicht mit Waffen (also auf seinem Niveau), sondern mit Werten begegnen soll, die ihn, in ihrer selbstgewählten Offenheit, auch noch entkräften sollen – während er in ihnen nur das Gottlose zu erkennen vermag, Verrat, Heuchelei, Präpotenz. Vielleicht ist es der Mühe wert, sich einmal versuchsweise ins andere Lager zu begeben, mit einem unverdächtigen Fremdenführer: Goethe.
Als er den «West-östlichen Divan» schrieb, um 1815, liess er sich nicht ungern nachsagen, er sei Muslim geworden. In seinen Noten und Abhandlungen finden sich denn auch erstaunliche Sätze: «Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.»
Ein Plädoyer für Orthodoxie? Von nichts war er, ein Leben lang, weiter entfernt. Nur dass der «dezidierte Nicht-Christ» davon nicht zum Atheisten wurde. Goethe hielt nichts von Werten, die man sich nichts kosten lässt: Er monierte ihre mit Freiheit nicht zu verwechselnde Beliebigkeit und schätzte also gerade jenen Markt gering, der nicht nur das Gewünschte liefert, sondern auch die Wünsche so steuert, dass er sie mit seinen Mitteln zwar nicht im Ernst zu befriedigen, aber auf Trab zu halten vermag. In den Kategorien der Divan-Notiz wäre das gerade jene Form des Unglaubens, mit dessen Unfruchtbarkeit man sich nicht abquälen mag. Der Glaube, den er meint, verlangt Anerkennung – zuerst der eigenen Widersprüchlichkeit. Er erwartet Verpflichtung: dass wir unseren Konflikt nicht als Werk eines bösen Feindes, sondern als Normalfall betrachten. Er hofft, dass wir Widersacher, die den Konflikt anmahnen, als Chance behandeln, die Anerkennung des Menschlichen (und Allzumenschlichen) beider Seiten zu vertiefen.
Kostengünstig ist das nicht, aber jede Alternative käme die Menschheit teuer zu stehen – erwiesenermassen. Unsere eigenen Widersprüche sind real, und ihre Anerkennung ist uns zumutbar – das war der wahre Kern seines Glaubensbekenntnisses, mit dem sich freilich keine Bataillone oder Raketen mobilisieren lassen, aber Menschen. Glaube heisst für Goethe: Verpflichtung zum nötigen Interesse für alles, was Menschen zu Feinden ihrer selbst machen kann, und die Hoffnung einer kunstmässigen Behandlung dieser explosiven Materie, nicht durch «Sicherheitsmassnahmen», die ihre Schwäche überwunden glauben, wenn sie nur gerüstet genug auftreten.
Was Goethe unter «Frommsein» verstand, hat er am bewegendsten in der «Marienbader Elegie» dokumentiert. Es geht um die grösste der Religionsverheissungen: die Liebe – vorgestellt an einem Beispiel ihrer Unerfüllbarkeit, im konkreten Fall einer jungen Frau, die ihn refüsiert hat. Das grosse Gedicht glaubt, liebt und hofft das Menschliche im Zeichen der Demut, der Entsagung, des Verzichts. Haltungen, die der Markt nicht einmal kennt, aber es ist das Leben, das sie nötig macht und lehren kann. Wenn wir es lieben, so nicht trotzdem, sondern darum.
Mit solchen Werten lässt sich weder Staat machen noch Gewinn erzielen. Aber sie sind das, was uns bleibt, auch wenn das Leben vergeht, und sie zählen da, wo Werte nicht verrechnet werden, sondern gewogen.
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