Dear colleagues,
Below the first of a series of articles from the Süddeutsche on the ‚Thema des Tages’ which I’ll send one-by-one since it makes archieving (or deleting…) easier.
Also a huge thank-you to all of you who wrote on- or off-list to me with „Stimmungsbilder“ on the situation in academia. The article has been sent to the F.A.Z and will be published in Wednesday’s „Forschung und Lehre“ section. I have asked for an English translation to go online on their website as well which will be on Thursday - including a ‚comment‘ function. There were so many important considerations which I couldn’t include in the 9000 characters limit that I thought it important to provide a forum for this.
Henrike
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Süddeutsche Zeitung vom 27.06.2016: Thema des Tages
Article 1)
Tür zu, und ab zum Cricket
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Von Stefan Kornelius
Die Volksbefragung über den Austritt aus der Europäischen Union hat Großbritannien über Nacht in eine veritable Staatskrise katapultiert. Nach der Rücktrittsankündigung von Premierminister David Cameron und der offenen Rebellion gegen Oppositionsführer Jeremy Corbyn ist das Land faktisch ohne politische Führung. Die Spaltung verläuft auch nach geografischen (England gegen Schottland) und demografischen (Jung gegen Alt) Mustern, was eine Neuorientierung innerhalb der bestehenden Parteigrenzen erschwert.
Einen breiten Raum nahm am Sonntag die Debatte über die rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung ein. Fraglich war vor allem, wie bindend das Votum für das britische Parlament sein würde. Eine zweite Front eröffnete sich in Schottland, wo Gegner eines EU-Austritts einerseits ein schottisches Referendum zur Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich in Aussicht stellten. Andererseits kündigte Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon an, dass ihr Landesteil ein Brexit-Votum des britischen Parlaments blockieren könnte. Über diese verfassungsrechtlichen Optionen brach sofort ein heftiger Streit aus.
Die sich abzeichnenden Diadochenkämpfe bei den regierenden Tories und bei der oppositionellen Labour-Partei spiegeln den Bruch in den Parteilagern wider. Auf der Suche nach einer neuen Führung gilt auch eine Neugewichtung der Parteienlandschaft nicht mehr als ausgeschlossen. Die Liberaldemokraten kündigten an, als Pro-Europa-Partei künftig alleine mit diesem Thema werben zu wollen.
Verstärkt wird die allgemeine Unsicherheit von einer aufkeimenden Protestbewegung des pro-europäischen Teils der Bevölkerung. Etwa drei Millionen Menschen unterzeichneten bis Sonntagabend eine Online-Petition zur Wiederholung des Referendums.
Vor allem junge Menschen, die im ganzen Land mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten, protestierten lautstark auf den Straßen. Die Anführer der Brexit-Kampagne, Boris Johnson und Nigel Farage, aber auch Labour-Chef Corbyn wurden wüst beschimpft und mussten durch starke Polizeiaufgebote geschützt werden.
Die Online-Petition gilt als bisher deutlichstes Symbol dafür, dass die Austritts-Entscheidung mit dem Referendum noch nicht besiegelt sein könnte. Die Petition war bereits vor der Abstimmung aufgesetzt worden und fordert, dass mindestens 75 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen müssen und die Mehrheit mindestens 60 Prozent betragen muss, um das Votum bindend zu machen. Beide Kriterien wurden am Freitag nicht erfüllt.
Ein Labour-Abgeordneter sagt: "Wir können diesen Wahnsinn stoppen."
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Obwohl bisher nicht einer der führenden Politiker die bindende Wirkung der Abstimmung laut angezweifelt hat, wird die Petition als erster Versuch gesehen, den Austritts-Wunsch im Parlament infrage zu stellen. Das House of Commons muss sich der Petition nicht stellen, das Parlament wird lediglich zu einer Befassung aufgefordert. Wahlrechtsexperten wie John Curtice, Professor der University of Strathclyde, warnten vor überzogenen Erwartungen. "Es bringt nichts, wenn die Menschen die Petition jetzt unterzeichnen, sie hätten es vorher machen sollen."
Allerdings werden sich die Abgeordneten auch ohne Petition mit dem Votum auseinandersetzen. Die erste Debatte könnte bereits am Dienstag stattfinden. Die meisten Abgeordneten, etwa 70 Prozent, gehören dem europafreundlichen Lager an. Die Bruchlinie verläuft quer durch alle Parteien. Die im Parlament abgebildete Stimmung steht nun im krassen Gegensatz zum Volkswillen, wie er im Referendum ausgedrückt wurde.
Da die Abgeordneten per Mehrheit den neuen Premier bestimmen und danach über den Starttermin der Austrittsverhandlungen abstimmen müssen, wird der Konflikt nun ins Zentrum der britischen Demokratie getragen: ins Unterhaus. Werden sich die Abgeordneten also gegen die Überzeugung ihrer Mehrheit dem Volkswillen beugen?
Die erste parlamentarische Hürde wird mit der Wahl des neuen Premierministers gestellt. Zunächst müssen die Tories mit ihrer knappen Mehrheit von 14 Stimmen im Unterhaus den Nachfolger von David Cameron bestimmen. Bereits diese Abstimmung wird zu einem indirekten Votum über den Austritts-Wunsch. Setzt sich bei der parteiinternen Kandidatensuche ein Brexit-Befürworter durch, muss sich auch die Fraktion entscheiden, ob sie hinter der Person steht. Einigt sich die Partei indes auf einen Versöhnungskandidaten, kann der auf eine größere Mehrheit im Parlament vertrauen.
Nach der Wahl des nächsten Premierministers muss das Parlament auch über das eigentliche Austrittsgesuch abstimmen. Die Volksabstimmung hat nämlich keine rechtlich bindende Wirkung. Tatsächlich handelt es sich um eine Art Volksbefragung, die ihre Relevanz dadurch erhielt, dass die politische Führung des Landes versprach, sie als bindend zu akzeptieren. Ob diese Zusage noch gilt, ist nun offen. Vor allem Abgeordnete könnten sich auf die Freiheit ihres Mandats berufen und den Austritt nicht vorantreiben wollen. Möglich ist, dass dieser Konflikt nur in Neuwahlen zu lösen ist. Der Labour-Abgeordnete David Lammy aus Tottenham sagte: "Wacht auf. Wir müssen das nicht tun. Wir können diesen Wahnsinn stoppen und den Albtraum durch ein Votum im Parlament beenden."
Das Gefühl der Ratlosigkeit hat sich durch das Verhalten der Brexit-Anführer an den Tagen nach dem Referendum nur verstärkt. Vor allem der Cameron-Gegenspieler Boris Johnson wechselte schlagartig den Ton und mahnte zur Ruhe. Es gebe "keinen Anlass zur Eile". Johnson überraschte mit einem abrupten Tonwechsel, als er sagte: "An alle, die nun ängstlich sind: Dies heißt nicht, dass das Vereinigte Königreich in irgendeiner Weise weniger vereint sein könnte; noch heißt es, dass es irgendwie weniger europäisch sein wird . . . Ich denke, das Gegenteil stimmt. Wir können uns nicht von Europa abwenden." Johnsons Kommentare wurden von Kritikern als zynisch aufgefasst, zumal der Tory-Politiker wie auch Justizminister Michael Gove mit subtiler Häme den "Mut" von Cameron pries - den Mut zur Abstimmung und den Mut zum Rücktritt. Ansonsten aber zeichnete sich das Brexit-Lager öffentlich durch Abwesenheit aus. Johnson wurde bei einem Cricketspiel beobachtet.
Der Anführer von Ukip (United Kingdom Independent Party), Nigel Farage, bereitete indes die Wähler auf eine "milde Rezession" vor. Er stellte den wirtschaftlichen Abschwung als unvermeidlich dar und leugnete einen Zusammenhang mit dem Wahlergebnis. Mit dem Brexit-Votum habe dies nichts zu tun, sagte Farage. Bereits am Morgen nach der Wahl hatte er ein klares Abstimmungsversprechen zurückgezogen und infrage gestellt, dass der Nationale Gesundheitsdienst nun in den Genuss der Gelder kommen könnte, die eigentlich in die Europäische Union fließen.
Überhaupt war das Wochenende gezeichnet von einer großen Ratlosigkeit, die sich in unzähligen Kommentaren ausdrückte. Alle Verantwortung für das Austrittsprozedere und den Zeitplan wurden von Cameron und auch den Brexit-Befürwortern der nächsten Regierung überantwortet. Brennende Fragen nach der Substanz des künftigen Verhältnisses zwischen Großbritannien und der EU blieben unbeantwortet. Weder Johnson noch Farage taten sich mit einem Aktionsplan zur Umsetzung des Wählerwunsches hervor. Die Sonntag-Talkshows und Kommentarspalten der Zeitungen waren gefüllt mit Spekulationen über die Handelsbeziehungen und den möglichen Zugang der Briten zum Binnenmarkt, der Gütern von der Insel zollfreie Absatzmöglichkeiten in der Europäischen Union ermöglicht. Zum Binnenmarkt gehört freilich auch der freie Austausch von Arbeitskräften - ein Gegengeschäft, das die Brexit-Befürworter vor allem ablehnen.
Sollte Großbritannien aus dem Binnenmarkt ausscheiden, muss das Land seine Handelsbeziehungen komplett neu ordnen - ein Prozess, der viele Jahre dauern würde. Ein neues Handelsabkommen mit der gesamten EU würde die Einstimmigkeit der verbliebenen Mitglieder und möglicherweise eine Reihe von Referenden, etwa in den Niederlanden oder in Frankreich, erzwingen.
In einem weiteren Signal der öffentlichen Konfusion berichteten Wahlhelfer von Anrufern, die ihre Stimme nachträglich ändern wollten oder meinten, sie hätten lediglich ein Protestvotum abgeben wollen. In sozialen Netzwerken fand diese Stimmung unter dem Kürzel "Bregret" reichlich Resonanz. Auffällig war, wie wenig Triumphstimmung vom Brexit-Lager verbreitet wurde. Die Boulevardpresse stürzte sich auf den Machtkampf bei Labour oder zeigte eine griesgrämig dreinschauende deutsche Bundeskanzlerin.
Der Rückweg der Schotten
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2014 haben die Schotten in einem Referendum mit 55,3 Prozent der abgegebenen Stimmen für einen Verbleib bei Großbritannien gestimmt. Nun, keine zwei Jahre später, möchte die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon ihre Landsleute erneut über die Unabhängigkeit abstimmen lassen. Sie argumentiert, die Briten hätten gerade für den Austritt Großbritanniens aus der EU votiert, die meisten Schotten wollten aber in der EU bleiben. Die Lage sei damit anders als 2014. Die Schotten müssten im Lichte des Brexit nochmals über die Unabhängigkeit entscheiden dürfen. Stimmten sie dafür, könnten sie in der EU bleiben.
Sturgeons Plan ist juristisch heikel. Laut der britischen Verfassung wäre das britische Parlament in London für eine Neuordnung des Vereinigten Königreichs und die Entscheidung über ein Austritts-Referendum zuständig. Das schottische Parlament darf daher nicht einseitig einen Volksentscheid darüber anordnen. Allerdings hatte das Parlament des Vereinigten Königreichs diese Befugnis vor dem Referendum des Jahres 2014 vorübergehend auf das schottische Parlament übertragen. Die britische Regierung hatte dabei klargestellt, dies rechtfertige nur ein Referendum pro Generation. Ein nun angestrebter zweiter schottischer Volksentscheid wäre demnach nicht rechtmäßig, es sei denn, das britische Parlament stimmt wieder zu.
Doch selbst wenn die Schotten bald unabhängig werden sollten, ist nicht sicher, dass ihr neuer Staat automatisch EU-Mitglied würde, obwohl Rumpf-Großbritannien die EU verlässt. Da es einen solchen Fall noch nie gab, ist die Rechtslage stark umstritten. Der Rückweg nach Europa wird für die Schotten hürdenreich werden.
Stefan Ulrich
Stefan Kornelius
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Stefan Kornelius leitet seit 2000 das außenpolitische Ressort der Süddeutschen Zeitung. Zuvor arbeitete er als stellvertretender Leiter des Berliner Büros und berichtete während der Clinton-Präsidentschaft als Korrespondent aus Washington. Von 1991 bis 1996 war Kornelius als Korrespondent im Bonner Bundesbüro der SZ für die Berichterstattung über Verteidigung und sicherheitspolitische Themen sowie über die CDU zuständig. Kornelius absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule und studierte an der Universität Bonn und der London School of Economics. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift Medium Magazin.
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