CfP: Wissenskulturen des Vormärz
(Jahrbuch Forum Vormärz Forschung 2011)
Es ist häufig beschrieben worden, daß sich mit dem Auslaufen von
romantischer Naturphilosophie und Idealismus gravierende Veränderungen im
Denken und Wissen vollziehen. Ob es die etwas ältere Diagnose von Odo
Marquard ist, wonach die Romantiknatur von einer pessimistischen
Anthropologie der Triebnatur abgelöst werde, oder Jonathan Crarys jüngere
Einsicht, daß sich in der Wissenschafts- und der Populärkultur seit den
1820er Jahren Veränderungen der Wahrnehmung anbahnen, welche erst die
Kunst der Moderne am Jahrhundertende dann allgemein sichtbar werden läßt,
oder Jürgen Links Hypothese einer Bifurkation der diskurssteuernden
Dispositive ‚Norm’ und statistische ‚Normalität’ im Biedermeier – immer
wird dabei im zweiten bis vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein
weitreichender Umbruch festgestellt. Das Projekt, diesen Wandel auch
einmal mit der These vom Vormärz in der Politik, der Kultur und den
Künsten abzugleichen, ist bislang über Autorenstudien hinaus jedoch kaum
systematisch verfolgt worden. Der Band will deshalb die These prüfen, ob,
was bislang als „Vormärz“ vorwiegend in Hinblick auf soziale und
politische Veränderungen beschrieben worden ist, nicht treffender als eine
Phase grundlegenden Wandels von Wissensordnungen zu fassen sei.
Als Kategorie ist der „Vormärz“ vor allem in der Literaturgeschichte
prominent, weniger schon in der politischen und Sozialgeschichte, und
dabei höchst umstritten, stoßen hier doch „Biedermeier“ und „Junges
Deutschland“ zusammen, mischen sich „autonome“ und „engagierte“ Kunst und
unterwandern klare Grenzziehungen. Die Kategorie ‚Wissen’ ermöglicht es
nun, Phänomene jenseits solcher Fraktionierungen zu untersuchen: zum einen
Produktionsbedingungen und Präsentationsformen als Voraussetzungen für
disziplinär organisiertes, wissenschaftliches Wissen ebenso wie für
populäres Wissen oder literarisch erzeugtes und vermitteltes Wissen; zum
anderen Beziehungen zwischen diesen unterschiedlichen Wissensformationen
im kulturellen Feld. Der Vormärz ist, so das Ergebnis unserer bisherigen
Forschungen, eine Phase relativ offener Episteme, ein „Experimentierfeld“.
Feste Wissensordnungen sind noch nicht konsequent etabliert: nicht in den
Ein- und Ausschlussmechanismen der sich erst ausdifferenzierenden
Einzeldisziplinen (was Universalgelehrte wie Humboldt, Goethe oder Carus
noch möglich und vor allem sozial relevant macht), nicht in verfestigten
Hierarchien (etwa in der Ausprägung einer Leitwissenschaft anstelle des
gemeinsamen Daches der Philosophie) und auch nicht in der Abschließung
spezialistischer gegen öffentliche Sphären.
Ein vitaler Teil dieses komplexen Gefüges ist das Literatursystem, und
zwar unabhängig davon, ob die Texte nun „romantisch“, „jungdeutsch“ oder
„Tendenzpoesie“ sein wollen oder ob Programmatiken und
Literaturgeschichtsschreibung „konservativ“ oder „fortschrittlich“
ausgerichtet sind. Die Positionierungsmanifeste des Jungen Deutschland
etwa adaptieren in ihren zentralen Begriffen „Leben“, „Fortschritt“ oder
„Genie“ Zeugungs- und Entwicklungsmodelle der zeitgenössischen Biologie,
grenzen aber massiv statistische Dispositive und die neuen
Objektivitätsnormen der Wissenschaften (Larraine Daston/Peter Galison)
aus. Die viel besprochenen Veränderungen in der Raum-Zeit-Wahrnehmung sind
nicht nur von Eisenbahn und Telegraphie bedingt, sondern auch von neuen
Erkenntnissen aus Geologie, Physik und Evolutionsbiologie. Die
Selbstwahrnehmungen kreisen um Komplexe wie „Konkurrenz“ (Olaf Briese),
„Zerrissenheit“ und organisieren sich dabei um (neue) Einheits- und
Überblicksmodelle sowie Kollektivsymboliken (Jürgen Link, Wulf Wülfing),
technische, netzförmige (Eisenbahn, Telegraphie) oder biologische,
selbstregulative Einheiten (Zelle), um Medien, die heterogenes Wissen
zusammenordnen (Konversationslexika, Kalender, Almanache, Zeitungen,
Zeitschriften), um Roman und Novelle, die anschlussfähig sind an die Prosa
der Wissensdiskurse, die „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel) und an das neue
Medium „Journal“ und um europaweit zirkulierendes Bildmaterial (Penny-,
Pfennigmagazine). Für das „Epochenproblem Vormärz“ (Peter Stein), den
„Streitpunkt Vormärz“ (Helmut Bock) steht also eine Entspannung zu
erwarten, wenn Literaturverhältnisse jetzt erstmals systematisch in
Relation zu Wissensordnungen beschrieben werden. Denn untersucht ist
dieses Beziehungsgefüge bislang nur in wenigen Ausnahmefällen – ein
auffälliger Gegensatz zur Romantik „um 1800“ und zur Moderne „um 1900“,
für die die Beziehungen zwischen Wissen(schaft) und Literatur inzwischen
bis zur Unübersichtlichkeit erforscht werden. Vor diesem Hintergrund will
das Jahrbuch deshalb für den Zeitraum zwischen ca. 1820 und ca. 1860
folgende Phänomene in den Blick nehmen:
1.) Wissen(schaft)sgeschichte
- komplexe Gemengelagen des Prozesses der Ausdifferenzierung und
Durchsetzung der Einzelwissenschaften mit besonderer Aufmerksamkeit für
die Zwischenzonen und die dabei relevanten Machtverhältnissen,
Produktions- und Präsentationsbedingungen wissenschaftlichen Wissens
- Wandel der Formen der Wahrnehmung, ihrer Darstellung und der Regeln des
Denkens
- Formen der Popularisierung von Wissenschaft
2.) Beziehungen zwischen den verschiedenen Wissensformen
- Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichem Wissen und programmatischen
Leitkonzepten des Vormärz (‚Leben’, ‚Bewegung’, ‚Entsagung’,
‚Zerrissenheit’ etc.)
- Beziehungen zwischen medizinischem, biologischem, physiologischem Wissen
vom Menschen und literarischer Anthropologie
- Beziehungen literarischer Texte zu wissenschaftlichem und populärem
Wissen mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Vielfalt an
Bezugsmöglichkeiten (d.h. nicht nur Adaption oder Reaktion: Formen der
Modifikation und Beurteilung unter Berücksichtigung der Eigenlogiken
literarischer Formen, die auch neues Wissen generieren können) und auf
Durchlässigkeiten und Überschneidungen zwischen den verschiedenen
literaturgeschichtlichen Gruppierungen
- Ausdifferenzierung/Entdifferenzierung: Verbreitung/Reichweiten von
Verfahren, Konzepten, Begriffen und Darstellungsformen mit besonderer
Aufmerksamkeit auf Interdiskurse, Kollektivsymboliken und auf deren
Grenzen
3.) Präsentations- und Darstellungsformen, mit besonderer Aufmerksamkeit
für deren wissensgenerierende Aspekte
- Aufzeichnungsverfahren (Kurve, Diagramm, Tabelle, Karteikarte,
Lexikonartikel etc.)
- Medien (Almanach, Kalender, Zeitung, Zeitschrift etc.)
The instigators warmly invite contributions both in English and German.
Deadline for proposals not exceeding 500 words is 31st Dec 2009.
Manuscripts are due to 31st Oct 2010.
Dr. Madleen Podewski
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
Mail: [log in to unmask]
Dr. Gustav Frank
Ludwig-Maximilians-Universität München
Department 13.I - Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als
Fremdsprache
Institut für deutsche Philologie
Schellingstraße 3/RG
D-80799 München
Mail: [log in to unmask]
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